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Das Eigene im Fremden

In dieser Ecke des Mrevlana-Museums ist der Andrang besonders groß. Die Menschen stehen dicht, viele von ihnen halten die Hände geöffnet, formen eine Schale, als würden sie Unsichtbares erwarten und empfangen. Obwohl diese Geste mir nicht eigen ist, begreife ich sofort. Sich öffnen und hingeben, Demut und Ergriffenheit, Versenkung und Vertrauen. Die Menschen stehen an Rumis Grab. Und ich mitten unter ihnen. Plötzlich gehöre ich dazu. Ohne diese Geste und doch mit ähnlicher innerer Bewegung. So sehr hat mich Rumi in manchen Jahren meines Lebens begleitet und beschenkt. Nun bin ich hier bei ihm – und teile dies mit all den anderen Menschen ringsum. Viele sitzen am Rand des Raums auf dem Boden und lesen in Rumis Texten, so wie auch ich oft in ihnen las. Mütter halten ihre Kinder zu respektvollem, angemessenem Verhalten im Angesicht der Andachtsstätte an, so wie auch ich es meinen Kindern früher gezeigt hätte. – Ich gehöre dazu.

Dieses Gefühl ist für mich im Moment sehr besonders. Ich bleibe eine ganze Weile sitzen, hier im Museum, wo ich eine von ihnen bin. Seit zwei Wochen reise ich durch Zentralanatolien. In wie vielen Situationen habe ich mich fremd gefühlt, nicht zugehörig, als die Andersartige, die von außen betrachtet wird, als eine Art Alien gar.
In Afyonkarahisar begann es mir bewusst zu werden. Die Stadt und die traditionelle, konservative Atmosphäre in ihr erschienen mir so unzugänglich. Drei Tage lief ich sehr verloren und einsam durch Straßen und Gassen. Nichts fand ich, was mich in die Umgebung hinein- und zu den Menschen hingeführt hätte, ich betrachtete nur Fassaden und Oberflächen. Tröstlich war mir in dem Moment eine Begegnung mit einer Gruppe junger deutschtürkischer Frauen aus Hamburg, die es genauso erlebten. Obwohl sie doch die Sprache ohne Probleme und die Kultur weit besser als ich verstehen, sprachen auch sie von einem starken Gefühl der Fremdheit und Beklemmung in dieser Ecke des Landes. Es baute mich kurz auf, dass es sich um keine persönliche Empfindlichkeit oder Misswahrnehmung meinerseits handelt.

Seither ringe ich mit einem Fremdheitsgefühl. Wenn ich in der Moschee einen anderen Eingang benutzen und mir einen Rock über die eigentlich tief hinunter reichende Leggins binden soll, wenn ich Frauen als vorwiegend unsichtbar im öffentlichen Raum erlebe, wenn die wenigen Frauen, die ich erblicke, stets als Begleiterin eines Mannes auf der Straße laufen, wenn ich die verschiedenen Kopftuchformen und -farben nicht interpretieren kann, wenn ich aus dem Augenwinkel mitbekomme, wie man mich mustert und über mich redet und wenn jedes Gespräch mit mir seinen Fokus zunächst auf das Seltsame, das ich da mache, richtet. Wo denn meine Kinder und mein Mann seien. Zuweilen wendet man sich empört oder verächtlich ab, weil ich meiner Frauenaufgabe nicht nachkomme. Man starrt nicht nur mein Rad, sondern auch meine Kleidung an, obwohl ich mich – an radfreien Tagen – mit meiner Haremshose und Leinenbluse doch wenigstens nicht körpereng kleide.

Denn ja, ich habe Respekt und möchte die hiesigen Regeln natürlich achten. Ich bin die Fremde, habe mir diese Reiseregion ausgewählt und habe mich entsprechend zu verhalten.
Und doch macht es etwas mit mir. Zunächst einmal: Ich werde wieder einmal unglaublich dankbar. Dafür, dass ich als Frau in unserer Gesellschaft so leben darf wie ich eben lebe, inklusive dieser Alleinreise.
Hier hingegen spüre ich mehr und mehr verhaltene Wut in mir aufkommen. Über die Rechte, die ich nicht habe. Darüber, dass ich ignoriert werde. Dass man(n) im Supermarkt vordrängelt. Dass man(n) mir ein lautes „Hej“ hinterherruft, wenn ich auf aufdringliche Ansprache nicht reagiere. Dass ich wohl zuweilen als potentielles Heiratsmaterial taxiert werde. Ja, auch das gibt es. Es ist ganz schwer in Worte zu fassen, denn der Großteil der Menschen, auch der Männer, ist weiterhin unfassbar gastfreundlich und liebevoll. Und doch bin ich die Fremde.

Mich überkommt Heimweh. Sooo zehrend habe ich mir die Fremde nicht vorgestellt. Vielleicht ist das hier die Region, zu der ich innerlich den größten Abstand habe und keinerlei persönliche Anknüpfungspunkte finde. Mit den meisten meiner späteren Reiseziele werde ich mindestens eine gemeinsame (Osteuropa)Vergangenheit teilen, so wie es ja bisher auch in den Ländern des Balkans war – das verbindet.
Und doch dachte ich gewappnet zu sein für dieses Gefühl des Andersseins. Statt dessen drückt es mir tagelang auf den Magen. Mit der Stadt Konya werde ich nicht warm. Ein deutschtürkischer Mann aus Mannheim erklärt mir, dass dies hier ein tiefkonservatives religiöses Zentrum sei, mit dem auch er seine Schwierigkeiten habe. Schon wieder solch eine Aussage wie von den jungen Frauen in Afyonkarahisar.

Es ist niemand da, mit dem ich meine Erfahrungen teilen könnte. Was tun? Stundenlang laufe ich durch Straßen und Gassen, sitze ich in Lokantas und Teegärten, schaue den Menschen ins Gesicht. Vor allem den Frauen. Was trägst du mit dir, im Innern deiner schweren, alles bedeckenden Kleidung und der vollen Markttaschen?, frage ich mich. Was erträumst du dir? Was macht dich glücklich? Was gibt dir Lebensfreude und -sinn?
Wie sie ihre Rolle empfinden mögen? Nie würde ich diese Frage aussprechen. Ich empfinde sie als unangemessen, als westlich-arrogant. Was sollten die Frauen auch dazu sagen? Sie laufen ja immer schon in ihren Schuhen. In der Regel haben sie noch niemals ihr Land, oftmals noch nicht einmal ihre Region verlassen. Wie sollten sie also ihr Leben, ihr Sein, ihre Rolle von außen betrachten können?
Beherrschte ich doch die Sprache nur besser. So habe ich keine Chance auf Kurzgespräche. Mit meinem Türkisch geht es leider nur langsam voran. Und in Smalltalks verwickelt werde ich ohnehin meist nur von Männern. Wie gern würde ich mich mit Frauen unterhalten. Diese sprechen aber quasi nie englisch.
Darum bin ich dankbar für meine Übernachtungsfamilien mit kleinen und großen Töchtern. Mit diesen spricht es sich viel leichter und offener. Nicht nur, weil sie in der Regel geschickter und schneller mit den Übersetzungs-Apps hantieren. Vor allem, weil ihre Träume und Visionen sich von denen unserer Gleichaltriger nicht wesentlich unterscheiden. Studieren, reisen, sich selbstständig machen, ein Fitness-Studio eröffnen, Sportwettkämpfe gewinnen, von zu Hause ausziehen, zuweilen auch: Ins Ausland gehen. Und – Zufall oder nicht? – in allen meiner bisherigen Übernachtungsfamilien haben die Töchter kein Kopftuch getragen. Die Mütter aber schon.

Was teilen wir eigentlich, bei aller Unterschiedlichkeit, frage ich mich. Was macht unser Menschsein, unser Frausein aus? Was verbindet uns?
Mitten in Konya gerate ich zufällig in eine Gruppe Mathematiklehrer*innen, welche in einem Ferienkursinstitut arbeiten und – weil sie mit mir Tee über Tee trinken wollen – erstmal eine lange Pause machen. Dabei frage ich eine junge Kollegin spontan, was sie am spannendsten an unserem Beruf findet. „Na, die Kinder“, antwortet sie ohne nachzudenken. Ha, genau dasselbe hätte ich gesagt. Wir erzählen uns von Begegnungs- und Unterrichtssituationen, offenbar erleben und empfinden wir Dinge gleich. Wie gut mir das tut. So viel Gemeinsames. Das Trennende hatte mir den Blick dafür verstellt.

Und jetzt?
Werde ich dieses Gemeinsame bewusster anschauen. Werde ich versuchen Fragen zu stellen, mit denen wir in wirkliche Gespräche finden können. Über die Träume für unsere Kinder, über unsere eigenen Träume, über das, was wir uns erhoffen im Leben, und das, was wir bereuen. Das, worum wir im Innern ringen und wofür wir kämpfen, eine jede an ihrem Lebensort und in ihrem Seinszustand.
Möglicherweise sollte ich in Gesprächen häufiger Impulse setzen, die wirkliche Begegnung ermöglichen. Schließlich habe ich mir ausgesucht, hier in die andere Kultur zu fahren, deswegen fühle ich mich auch für stimmige, nichttrennende Kommunikation zuständig, sozusagen.
Denn eines wird mir mit jeder Stunde klarer: Uns vereint mehr als uns trennt – unser Menschsein. Wieviel ich mir von hier abschauen und mitnehmen kann. All die Gastfreundschaft und das Verantwortungsgefühl für die und den Nächsten, das mich hier immer wieder auffängt. Auch wenn ich den Menschen fremd erscheinen mag, würden sie nie zulassen, dass ich Hunger, Durst, Frieren, Verirren oder sonstige Hilflosigkeit erleide. Ich erfahre ganz elementare Nächstenliebe.
Auf Deutschlands und Mitteleuropas Straßen ist das recht anders. Dort werde ich nicht angestarrt, aber oft eben auch völlig ignoriert. – Und umgekehrt: Wie oft habe ich mich schon um jemand Wildfremdes mitten auf der Straße gekümmert? Habe ich jemals anlasslos jemand Fremdes gefragt, was er oder sie braucht? Nein.
Es ist eine große Schule des Menschseins, in die ich hier geraten bin. Ich muss nur gut genug hinschauen und darf mich in keiner Oberfläche verlieren.

Danke, Rumi.
Dafür, dass mir das Verbindende nun sichtbarer ist. Dafür, dass ich mehr Eigenes im Fremden wahrzunehmen vermag. Und dafür, dass ich mich näher an den Menschen hier und weniger allein fühle.

PS:
Diesen Text schrieb ich in Konya, dies ist einige Wochen her. Es waren Tage, an denen ich mich sehr einsam fühlte und meine Reiseart sogar ein wenig in Frage stellte.
Seitdem ist es, als wäre ein Schalter in mir umgelegt. Plötzlich habe ich mehr intensive Begegnungen, verbringe Abende und Nächte in Familien, in denen ich mehr als vorher Teil der Gesprächsrunde bin und Nähe erlebe. Ich treffe andere Radreisende in stimmigem Miteinander, wir reisen sogar kurz zusammen. In Straßensmalltalks gehe ich offener auf die Menschen zu. Aber ich bin auch entschlossener geworden mich abzugrenzen, wenn eine Einladung oder ein Gespräch für mich nicht passt. Ich nehme mir das Recht, Angebote abzulehnen, nicht bei jeder Ansprache anzuhalten und lange entschuldigend zu zögern, niemanden mehr vordrängeln zu lassen und entschiedener zu antworten, wenn ich mich übergriffig behandelt fühle. (Natürlich kann ich dies nur auf Deutsch oder Englisch tun. Der Tonfall dabei wird aber wohl in der Regel verstanden.)

2 Kommentare

  • Sofasophia

    Ich bin gerade sehr ergriffen von diesen Gedanken, spüre die Tiefe, kann mich in deine Gedanken eindenken und einfühlen. Wie schön, dass du wieder geschrieben hast.

    Dieser Tage bin ich gedanklich viel bei dir, wo immer du auch gerade bist, hoffend, dass deine Reise eine gute sein möge.

    Herzliche Grüße <3

  • rebisreistrad

    Danke <3
    Naja, das Neuschreiben hat noch Zeit, ich veröffentliche in diesen Tagen hier mal alles, was eh schon lange im Entwürfe-Ordner liegt:)

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