Tuz Gölü – Salz zum Staunen
28. August bis 02. September 24 – Von Konya nach Aksaray
Radreisetag 15 – Von Konya nach Divanlar
Ich bin glücklich – so kann ich das Hauptgefühl dieses Tages beschreiben. Glücklich, dass ich nun doch eine enge Verbindung zu diesem Ort aufbauen konnte, so dass die Abfahrt innerlich ein wenig zieht, glücklich über die weite Landschaft, in der ich den ganzen Tag fahren darf (was sich zuweilen wie Fliegen anfühlt), glücklich über kleine warmherzige Begegnungen – wie man mir im Museum (Çatalhüyök – eine 9000 Jahre alte menschliche Siedlung: sehr gut aufbereitet übrigens, und Mitschau echter Ausgrabungen) alle Abläufe sehr einfühlsam erklärt, wie ich beim Mittagessen von allen sehr umsorgt und beschenkt und am Ende noch über die schwerbefahrene Straße begleitet werde, wie Autos auf der Straße anhalten und mich fragen, was ich brauche, wie man in einem einsamen, sichtbar armen Dorf nach einer Zeltmöglichkeit für mich sucht und durch Herumtelefonieren letztlich auch findet, an einem Bauernhof nämlich, zu dem der Patron extra noch gefahren kommt, um mir alles zu zeigen und seine Mitarbeiter zu instruieren, was sie alles für mich tun sollen …
Einen winzigen Punkt Abzug gibt es vielleicht für den Gegenwind in der zweiten Tageshälfte, aber der wird durch die Lichtspiele auf den kargen Bergen, an deren Rand ich stundenlang entlangfahre, allemal wettgemacht.
Und nun sitze ich vor meinem Zelt mit Blick auf den weiten abendglühenden Himmel, in der Ferne flackern Lichter von Dörfern und Ortschaften, und ich höre nichts außer Grillen. Es ist Zeit für viele Gedanken zu meinem gestern geschriebenen Text, auf den ich heute viele tiefe und nahe Reaktionen bekommen habe, dass ich mich reich beschenkt fühle durch diesen Austausch (kommt Zeit, kommen Antworten!) und das Gefühl habe, ich habe im Innehalten in Konya einen weiten Schritt in meine Reise hinein getan. All die Stimmigkeit des heutigen Tages ist vielleicht ein direktes Ergebnis meines Ringens der letzten Tage.
Wie wunderbar.
Radreisetag 16 – Von Divanlar nach Sultanhanı
Nach einer kurzen Stallbesichtigung – ich hatte ja neben einem Bauernhof geschlafen – und einem Gespräch mit dem LKW-Fahrer, der Milch abholt, fahre ich los, bald auf der Hauptstraße, die ich heute nicht mehr verlassen werde. Es geht im Wesentlichen geradeaus. Etwa drei Kurven wird der Tag haben. Dass die Straße anfangs die kleine Hügelkette überquert, an der ich gestern entlanggefahren bin, ist die einzige landschaftliche Abwechslung. Den Rest des Tages ist es flacher als flach. Man fährt so vor sich hin und hat viel Zeit für Podcasts, die man sonst nie geschafft hat zu hören.
Problematisch wird allmählich, dass ich seit gestern keinen Laden mehr gesehen habe. Damit hatte ich hier so nah an Konya noch nicht gerechnet. Als ein Tankstellensupermarkt plötzlich ungewöhnlich reichhaltig ausgestattet ist, schleppe ich einen vollen Einkaufskorb zu meinen Packtaschen. (Ein Einheimischer erzählt mir, dass auch sie alle in dieser Tankstelle einkaufen und ansonsten einmal die Woche nach Konya fahren. Andere Möglichkeiten gibt es nicht.)
In der Mitte meiner Tagesstrecke biege ich ein paar Kilometer ab zur Karawanserei Obruk, mitten im Nirgendwo. Diese ist erst vor wenigen Jahren aus Ruinen wiederaufgebaut worden und seit zwei Jahren als Hotel und Museum geöffnet. Man führt mich durch alle Ausstellungsräume und auf die Terrasse, erzählt mir viel über Geysire und Exponate – mir scheint, das ist ein Versuch der Werbung und der Gewinnung von Hotelgästen. Klar, bei dem Zimmerpreis muss man auch sehr aktiv nach Gästen suchen:)
Ich will aber eh nach Sultanhanı weiter, wo es eine größere, weit bekanntere Karawanserei und vor allem einen Zeltplatz gibt.
Von jetzt ab wird die Infrastruktur dichter, alle paar Kilometer steht eine Tankstelle. Das fühlt sich gut an, denn von hinten jagt mich ein Gewitter. Es gäbe also Unterstellmöglichkeiten. Die brauche ich aber letztlich gar nicht, denn das Gewitter schiebt mich mit seinem Wind vor sich her und holt mich nicht ein, ich fahre teilweise 30 km/h ohne zu treten. Nicht ganz ungefährlich, zumal wenn LKWs überholen und ich in ihren Luftwirbel komme. Ich rolle hochkonzentriert auf meinem Seitenstreifen und bremse oft, weil es sonst zu schnell wird. Als plötzlich seitliche Windböen dazukommen, welche Sandwolken und halbe Bäume über die Straße jagen, muss ich absteigen und stehenbleiben. Magisch – bei aller Sorge, wo ich mich schützen könnte – in dem Moment: durch den Sandnebel hindurch ist aus der flachen Landschaft ein hoher Berg im Abendlicht zu sehen. Sehr unwirklich, wie eine Fata Morgana.
Als der Seitenwind schwächer wird, lasse ich mich vom Rückenwind weiter nach Sultanhanı treiben … und dort erwartet mich eine Oase. Nicht nur die abendlichtbeschienene Karawanserei, sondern auch ein kleiner Campingplatz mit vier anderen deutschen und französischen Radreisenden, mit denen wir bei gemeinsam gekochtem Riesenessen einen intensiven Abend verbringen. Wir sitzen bis nach Mitternacht zusammen, weil es stimmig ist und es so viel auszutauschen gibt – über Erlebnisse hier und in den anderen durchradelten Ländern, über Routen und Pläne, über unsere sonstigen Leben. Was für ein Geschenk, diese Zufallsbegegnung.
Radreisetag 17: Von Sultanhanı nach Eskil
Begegnung heißt Austausch heißt Inspiration. Die beiden französischen Reisenden inspirieren nicht nur mich, sondern auch Mira und Marcus, in die faszinierende Salzlandschaft des Tuz Gölü zu reisen. Mich freut das total, denn die Wege in dieser Landschaft scheinen so ungeheuerlich schön wie abenteuerlich zu sein. Vielleicht also hätte ich mir den Tag, wie er nun verlaufen wird, allein gar nicht zugetraut.
So jedenfalls planen wir zu dritt unterwegs zu sein, aber zuvor gibt es gemütliches Frühstück zu fünft, weitere Gespräche, Abschiedswünsche, und ich besuche noch schnell die Karawanserei (wegen der ich eigentlich herkam). Sie ist mir aber zu steril aufbereitet und außerdem voll von anrollenden Bustouristenmassen. Einzig eine kleine Fotoausstellung über den Weg der Wolle vom Schaf zum Teppich berührt.
Und dann rollen wir auf den Salzsee zu. Erst 20 Kilometer auf einer asphaltierten Straße, in einer öd-stillen flachen Welt mit kärgstem Bewuchs, der schon auf das Spezielle dieser Natur hindeutet. (Besonders ist auch, dass wir – da die Straße leer ist – nebeneinander fahren können und unablässig reden. Das hatte ich wohl zuletzt, als ich noch mit meinen Kindern gereist bin.)
Dann eine Ortschaft, ebenso verlassen wirkend wie die uns umgebende Ebene. Sie enttäuscht uns zunächst insofern, als wir dort kalte Getränke und Eis kaufen wollten, aber kein Mensch auf den Straßen und alles geschlossen ist. Kurz darauf verstehen wir warum: Das Freitagsgebet in der Moschee endet, viele viele Männer strömen heraus, und buchstäblich in dieser Minute beginnen die Straßen zu leben. Die Läden und Cafés öffnen, wir bekommen Trinken und Eis, füllen unsere Wassersäcke an der Moschee und fahren los ins Nichts.
Auf Waschbrettschotter bis zu einem Beobachtungsturm (von dem man wohl früher Flamingos sah), dort schließen wir die Räder an und wandern los. Auf den See zu, durch die Landschaft, die zuerst modrig karg, von Prielen durchzogen, später immer weißer wird. Bis wir schließlich auf Salz, nur noch auf Salz laufen. Viele Kilometer lang, in einer weißen Ebene wie nicht von dieser Welt. Salzstrukturen in verschiedensten Formen, Kristalle, Blumen, Muster in weiß, rosaweiß, beigeweiß, grauweiß. Unsere Schritte knirschen. Später, als wir durch die flache Wasserschicht auf den Salzkristallen laufen, plätschern sie. Ansonsten ist es still. Absolut still.
Man glaubt zu träumen. Kaum zu glauben, wo wir hier sind. Blicke (und Kameras) können sich nicht sattsehen. Wir laufen fast meditativ, jede(r) für sich, immer wieder entdecken wir neue Facetten des Faszinierenden. Wie manchmal Blasen aufsteigen, wenn wir in die Nähe von kleinen Löchern treten. Wie sich auf dem absolut stillen flachen Wasser winzige Wellen in Riesenkreisen ausbreiten. Wie die Formen immer wieder neu aussehen, das Licht wechselt ja, denn wir sind lange dort, die Sonne beginnt zu sinken und ihre Farbe zu ändern.
Unser weitester Punkt, beschließen wir, soll eine kleine Insel im Weiß sein. Von dort aus Richtung See geblickt, ist es nur noch weiß. Nur nur nur weiß. Und ganz schwach darüber als dunstige Silhouette die Bergkette am anderen Ufer. Wir stehen und staunen. Ja, und dann machen wir auch solche Fotos, die wohl immer auf diesen weißen Flächen gemacht werden – seht selbst.
Und – was noch nicht zu sehen ist (weil ich die Bilder noch nicht überspielen kann): Meine Drohne bekommt hier ihren Jungfernflug. Wurde ja auch Zeit. Ein würdiger Ort. (Nur schwierig, weil es so grell hell ist, dass ich die entstehenden Aufnahmen gar nicht richtig kontrollieren kann, gegen das Weiß kommt kein Display an.)
Nun, irgendwann, rechnen wir aus, müssen wir zurücklaufen, mit dem Sonnenuntergang im Nacken. Eine lange stille Wanderung zurück, wieder über Salz, kargen Staub und durch modrige Priele. Unsere Räder stehen unberührt. Wir bleiben doch nicht wie angedacht für die Nacht am Aussichtsturm, weil sich dort eine Art Abendparty des Dorfes anbahnt. Ein paar Kilometer weiter finden wir eine optisch vom Weg abgeschirmte Ecke hinter Bäumen. Kochen in der nun eingebrochenen Dunkelheit, den Tag an uns vorbeiziehen lassend, wir sind still und sitzen. Wie gut das tut. Und fast das beste Gefühl: Sich die Füße zu waschen. Das Wasser im Wassersack reicht, mit schwachem Strahl Zehe um Zehe von Salz und Moder zu reinigen. Was für ein Wohlgefühl!! (Wie wertvoll diese vermeintlich kleinen Dinge sind, kann man wohl besser als auf einer solchen Reise nicht lernen.)
Glücklich schlafe ich ein. Was für ein Tag, was für ein Geschenk.
(Und nun bleibt nur die Schwierigkeit, eine Bilderauswahl zu treffen … Und das Reinigen der Salzsandalen am nächsten Tag war nicht ganz leicht. Ich habe Unmengen an Wasser durchlaufen lassen, und sie sind immer noch hart:))
Radreisetag 18: Von Eskil nach Gölyazı
Reisen heißt immer wieder auch Abschied nehmen. Manchmal tut es weh, so wie heute morgen. Mira und Marcus wollen direkt nach Südosten, nach Kappadokien, während ich den Tuz Gölü noch im Norden umrunden will. Also trennen wir uns schon am Übernachtungsort – wir fanden es alle drei, glaube ich, sehr schön, diese kurze gemeinsame Zeit. Es ist gut möglich, dass wir uns spätestens in Georgien wiedersehen, wenn wir es dann noch wollen.
Ich sinne der kurzen gemeinsamen Zeit noch eine Weile nach, es spiegelt mir ja auch, was ich im Alleinsein vielleicht vermisse (und wie ich mit mir selbst umgehe).
Als die Sonne schon sehr hoch steht, breche auch ich auf, zunächst in die kleine Stadt Eskil, die wir gestern schon durchquerten, für ein Börek-Frühstück und letzte Einkäufe vor der verwaisten Strecke im Hinterland des Sees.
Ja, die Strecke ist lang und einsam. Ich trete so vor mich hin, im Ohr Episoden von Radreise-Podcasts, am Wegesrand flaches flaches Land. Mal mit Bewuchs, mal komplette Brache. Die Dörfer wirken größtenteils leer und verloren, obwohl dort Menschen leben. Auf der Straße begegne ich ab und zu einem Auto, fast genauso häufig aber Schafherden. (Diese sind immer eine Herausforderung, wegen der scharfen Hütehunde. Und nicht immer fühlen sich die Schäfer für diese verantwortlich.)
Irgendwie wird mir nicht langweilig, offenbar bin ich für solche Landschaften wie geschaffen. Ich überlege so vor mich hin, wo und auf welcher Art Boden (und vielleicht Verborgenheit) ich heute Abend zelten könnte, als sich dieser Plan im Bruchteil einer Sekunde wandelt. Während ich nämlich vor dem letzten Supermarkt des letzten Ortes vor 30 km Leere sinniere, was ich noch einkaufen muss, spricht mich in fließendem Deutsch eine Frau an, ob ich bei ihnen übernachten wolle. Zwar hatte ich eigentlich vor, noch weiter zu fahren, es ist auch erst Nachmittag, aber: Frauen begegne ich hier so selten, was ich sehr bedauere. Klar, dass ich zusage.
Ein unglaublich schöner Abend beginnt: Inmitten einer türkisch-kurdisch-deutschen Dreigenerationen-Familie, mit Abendessen, Zusammensitzen, Reden in liebevollem Ambiente, hach. Wieder einmal fühle ich mich willkommen und herzlichst aufgenommen.
Dusche und Essen und Strom und Hilfe gibt es natürlich auch, und – am besten – Gespräche. Über das Leben im Dorf und am See, warum fast alle letztlich nach Deutschland oder Holland auswandern, aber im Sommer immer hier sind, wie sich der See in den letzten Jahren verändert hat, wie es sich in Deutschland lebt – nicht nur gut, nein, der kulturelle Spagat ist beschwerlich, vor allem aber die persönliche und strukturelle Ausländerfeindlichkeit, von denen sie alle erzählen (als ich danach frage, erst dann …) -, wie es sich anfühlt, in eine Zwangsehe geraten zu sein, und wie man sein Leben gestalten und zur Vorreiterin für Veränderungen werden kann, bei allen Widrigkeiten von außen. Es ist so intensiv, vor allem das Zusammensein in der Frauenrunde. Und mit den Kindern, mit denen ist es auch wunderbar.
Später helfen mir diese vier Kinder zwischen zwei und acht Jahren beim Zeltaufbau. Kurzum: das Zelt hat es überlebt. Aber es war eine Herausforderung. 😉 Besonders witzig daran: Als ich letztlich gerade schlafen gehen will, tröpfeln drei Mikroliter vom Himmel, was die versammelten Frauen der Familie endgültig überzeugt, dass ich natürlich auf gar keinen Fall im Zelt schlafen sollte, sondern in ihrem Haus, wie schon von Anfang an vorgeschlagen. Nun bin ich weichüberredet und gebe nach – und bekomme ein Haus mit vielen Zimmern für mich. 😍
Radreisetag 19: Von Gölyazı nach Zincirlikuyu
Wir frühstücken, wir reden weiter, unglaublich schön auch am Morgen. Irgendwann dann nehmen wir uns doch in den Arm, und ich fahre ab.
Es wird eine lange öde Strecke. Außer flachem Land ist nichts zu sehen, nur ab und zu in der Ferne ein Gehöft. Hier auf diesen 30 Kilometern hätte es tatsächlich nicht mal Wasser gegeben, und das in der Türkei.
Mitten in der Einsamkeit videotelefoniere ich mit dem Sohn (der heute Geburtstag hat) – die modernen elektronischen Möglichkeiten sind schon manchmal ein Segen. Dann trete ich weiter durch das Land mit Kühen, Schafen, Hunden und sonst nichts. Vom See sieht man nicht viel, es ist zu flach. Nur irgendwo scheinen aufgeschüttete Salzhügel durch den Dunst, hier wird Salz abgebaut. Die Straße dahin aber ist verriegelt und verrammelt, keine Durchfahrt möglich. Da heute Sonntag ist, sind nicht mal Arbeiter da, die man zur Durchfahrterlaubnis überreden könnte.
Ich biege also ab und will weiter nach Norden, um dort den See zu überqueren. Für 20 Kilometer geht es über eine autobahnartige Straße, der plötzliche Lärm überfordert mich, da ich seit drei Tagen nur Stille um mich hatte. So bin ich froh, bald wieder seewärts zu fahren. Die Landschaft hat sich verändert, es ist hügelig, es gibt mehr Dörfer, und am Horizont blitzen Gewitterwolken. Ich realisiere, dass der Zeltabend in der Einsamkeit sehr ungemütlich und nass werden könnte und entscheide mich daher, in einer Moschee zu schlafen, derer gibt es viele. In einer Ortschaft finde ich eine mit Garten und Sitzgruppen – ha, wie geschaffen für mich.
Allerdings: Man müsste sich vermutlich im Schutze der Dunkelheit dort hineinschleichen, um nicht doch irgendwo eingeladen zu werden. Während ich nämlich noch mit den Augen den Zaun nach einem offenen Tor absuche, kommen mehrere Jugendliche auf mich zu, alle sprechen deutsch oder niederländisch, und erzählen mir ihre Geschichten, als ich nur einen fragenden Gesichtsausdruck mache. Was sie wollen und suchen im Leben, welche Hindernisse es in ihren beiden Ländern gibt, wie sie versuchen, drumherum ihren Weg zu gehen – Stoff für mehrere Kurzgeschichten in wenigen Minuten. Ein Mann gesellt sich zu uns, möchte mir helfen und geht in einem Laden fragen, wann in der Moschee die Räume aufgeschlossen werden, damit ich nicht zu lange warte und friere. Zack kommt der Ladenbesitzer heraus, sagt, ich schlafe heute bei seiner Familie und schnappt sich mein Fahrrad. Seine Frau E. sei in Österreich aufgewachsen, die spreche deutsch, und natürlich freue sie sich immer über spontanen Besuch.
So ist es dann auch, ich bekomme einen ebenso herzlichen Empfang wie am Vortag, wir sitzen und reden, auch hier wieder in drei Generationen. Ich darf duschen, werde gefragt, ob ich waschen möchte, zwischendurch fahren wir kurz zum Laden (unangeschnallt – als ich zum Gurt greifen will, lachen sie liebevoll: das sei hier nicht Deutschland:)) Im Laden soll ich mir aussuchen, was ich will – und da ich keine Tüte nehme und nichts brauche, packt E. einen Plastiksack voll mit süßen und salzigen Snacks. Am nächsten Morgen, als sie mir die Tüte aufs Rad legt, werde ich begreifen, dass das alles für mich war. (Ich komme mit dem Aufessen nicht mehr hinterher.)
Wieder zu Hause gibt es Manti (Teigtaschen) mit Linsen in Joghurtsauce (wow, wie lecker!), Auberginengemüse mit selbstgebackenem Brot – und morgen früh werden wir noch ein weiteres Gericht fertigstellen, damit ich auch das gesehen und gekostet habe. Und natürlich Tee, viel Tee. Wir reden über unsere Länder, unsere Leben, und darüber, dass E. bald mit den Kindern nach Österreich ziehen wird, es sei stabiler und besser für die Mädchen, dort in die Schule zu kommen. Bald geht ihr Flug. Mutig, denn es fehlen ihr noch eine Arbeit und eine Wohnung. Aber ein Teil der Großfamilie ist da, sagt sie, wir kommen immer unter. Das glaube ich sofort.
Heute frage ich schon gar nicht mehr, wo ich mein Zelt aufstellen darf. Zumal es draußen tatsächlich blitzt, donnert und schüttet. (Und wann E. das Zimmer mit bezogenem Bett fertiggemacht hat, habe ich nicht mitbekommen. Vielleicht aber halten sie ein solches Gästezimmer einfach immer bereit?)
Radreisetag 20: Von Zincirlikuyu nach Aksaray
Wir frühstücken gemeinsam, wegen mir steht die ganze Familie wohl viel früher auf als sonst, aber trotzdem klappt es natürlich nicht, dass ich vor 10 Uhr wegkomme – ich hätte gern den See und die Landschaft im Morgenlicht gesehen. Denn von hier ab befinde ich mich in einer Art Mondlandschaft: Hügelig, immer wieder Blicke in den Dunst des Sees hinaus, und alles ist braun-beige-felsig-karg. Hinter jedem Hügel bin ich vom nächsten Anblick fasziniert, einmal schreie ich laut vor Glück:))
Hinunter zum See will ich gar nicht, muss es aber irgendwann doch. Kurz vor der Straße (naja: Schotterweg) über den See ist mitten im Nirgendwo eine Wasserstelle gebaut, daneben ein Karree an jungen Bäumen gepflanzt. Was auch immer das werden soll, wenn es groß ist: Ich erinnere mich an die Erzählungen der Leute am Eğirdir-See, dass der See austrocknet, weil alle Menschen und Höfe ringsum ihm seit Jahren grenzenlos Wasser entnehmen …
Dann fahre ich auf die Seestraße. Rechts und links davon eine Mischung aus wattähnlichem Schlamm und schmutzigweiß-grau-rosafarbenem Salz. Hätten wir den Tag neulich nicht gehabt, wäre es vermutlich eine Stufe faszinierender gewesen; so verblassen die neuen Eindrücke etwas vor den alten. Ich stehe und laufe trotzdem lange auf der unendlich weiten Ebene, zumal ich ganz allein bin. Ein einziges Mal kommt ein Auto übern See gefahren. Die Drohne darf mal wieder üben (und wenn ich herausgefunden habe, wie ich Bilder und Videos von dort schnell aufs Handy bekomme, werden hier auch irgendwann Drohnenaufnahmen zu sehen sein).
Auf der anderen Seeseite ist eine Salzförderfabrik, ein Großteil des in der Türkei konsumierten Salzes stammt von hier. Ich bestaune riesige Salzberge, die vor dem dunkelgrauen Gewitterhimmel besonders fotogen sind.
Von jetzt ab ist die Straße dicht befahren von LKWs, dies wird sich über den restlichen Tag auch nicht mehr ändern. Die dreieinhalb Tage der Seestille sind also vorbei, als ich die große Straße am östlichen Seeufer südwärts rolle, ich trauere ihnen hinterher. Und lenke mich mit einem Podcast ab. Zwar hat man immer wieder noch faszinierende Blicke auf den See, aber ansonsten besteht die Fahrt aus Treten und Aufpassen, dass man nicht zu weit auf die echten Fahrbahnen kommt. Immerhin ist der Asphalt super, und der Wind kommt gnädigerweise mal nicht von vorn.
Beim Blick in die flache Landschaft ist mir nicht ganz klar, wo ich schlafen soll: Kein Baum, kein Strauch, endloser Blick bis zum See auf der rechten und ein felsiger Bergzug auf der linken Seite, keinerlei Abzweigungen von der Autobahn, und selbst wenn man hinunterstolpern könnte: Es ist nicht klar, ob es da unten in der Weite Wege zwischen den Dornen gibt. Die nächste Ortschaft mit Moschee und Bäumen liegt 40 km entfernt. Ich trete also schneller, es ist schon 16 Uhr, um 19.30 wird es stockdunkel sein. Als ich die Ortschaft letztlich erreiche, liegen diese und ihre Moschee weit oben am Berg. Außerdem stelle ich mir vor, wie ich ein weiteres Mal in eine Familie eingeladen werde (und mir aber eigentlich nach Alleinsein und ruhigem Abend ist). Also fahre ich weiter und weiter, an allen Dörfern vorbei. Bis mir klar wird, dass Aksaray nicht mehr fern ist, eine größere Stadt mit Hotels. Ich schaue – und es gibt Zimmer. Also einfach durchbrettern, entscheide ich. In der Stadt macht die Dunkelheit ja nichts.
Um halb neun bin ich da, 122 Kilometer auf dem Tacho (das hätte ich ja am Morgen nicht wissen wollen), ich dusche schnell und stürze mich in die Straßen der Stadt. Deren Lebendigkeit tut mir gut, ich schaue mich um, überlege was und wo zu essen … als ich von einem jüngeren Paar angesprochen werde. Einfach so, sie interessieren sich für mich und sahen mich suchend. Naja, schon die ersten Gesprächsfetzen lassen meinen Alleinseinswunsch verfliegen, wir beginnen interessanteste Gespräche über alles. Sie sind Krankenpfleger in dem kleinen Dorf, von dem aus wir den Salzsee erkundeten (und müssen nachts wieder dorthin zurücktrampen), wir erzählen über unsere Gesundheits- und Ausbildungssysteme, über Arbeitsbedingungen und Urlaube, über Glauben und Religion, über die Regionen der Türkei – sie kommen beide aus dem Süden, aus Mersin und Mardin – und zwischendurch bringen sie mich erst in ein Corba(Suppen)-Restaurant und danach in eine „Baklavaria“, wo wir Künefe essen. Genau genommen essen sie in beiden Restaurants extra etwas Unterschiedliches und Anderes als ich, damit ich von allem kosten kann und sie mir die Details der verschiedenen Speisen und Beilagen erklären können. (Im Gegenzug erkläre ich ihnen, wie sie von ihrem Dorf über den Vogelturm auf die weißen Seeflächen kommen. Manchmal kennt man sich als Einheimischer ja nicht so aus.😅)
Es ist großartig und so vertraut, mit ihnen zusammen zu sein. Wegen des Essens, und wegen der interessanten Gespräche. (Und dass ich mein Essen natürlich nicht selbst zahlen darf, brauche ich wohl nicht zu erwähnen.)
Mal wieder: Was für ein Tag!
4 Kommentare
Ulli
Liebste Frau Rebis, ich bin froh, dass du dein Erleben auch hier im Blog teilst, bin ich doch Zurzeit kaum auf Insta unterwes und fehlen mir jetzt schon so viele Tage, dass ich wohl einen ganzen bräuchte, um dir hautnah folgen zu können.
Ich freue mich immer wieder mit dir über diese wunderbare Gastfreundschaft, aber natürlich runzel ich auch die Stirn, wie bei dem vorletzten Beitrag, wenn es um die Stellung der Frauen geht. Auch freue ich mich, dass du immer wieder Deutschsprachige triffst, osdass Gespräche überhaupt möglich sind.
Von Herzen wünsche ich dir weiterhin eine gute Fahrt, reiche Begegnungen und Gespräche.
Liebe Grüße
Ulli
rebisreistrad
Danke, liebste Ulli <3
Damit Du mit dem Lesen hinterherkommen kannst, mache ich derzeit eine Pause ... dann kann ich hier schreibend alles aufarbeiten, und Du lesend 😉
Ich hoffe aber, bald weiterfahren zu können - und dann werde ich Deine Fahrtwünsche mitnehmen. (Und warme Handschuhe, die nehme ich auch mit. In Ostanatolien hat die Schneesaison begonnen ...)
Liebe Grüße zurück <3
Joachim
Und wieder zwei Berichte, nein, Einkehren in das Innere, zu Papier gebracht. Aus dem Betrachten und dem Erfahren machst du eine Schau des Anderen, Uta, die mich als Leser mitnimmt und fasziniert. Deine Interpretation des von dir Gesehenen und des Erlebten, die Einordnung in deine Welt und das alles mit dem Blick auf Dritte ist toll. Und irgendwie wird dein Text immer mehr literarisch, kunstvoll. Ich freue mich auf weitere Erlebnisse; habe weiter diese Neugier, die glückseligen Momente und vor allem Tee. Herzlich, Joachim
rebisreistrad
Danke, lieber Joachim, für diese guttuenden Worte 🙂
Und ja, bald fahre ich hoffentlich weiter. Tee wird dann besonders hilfreich und wichtig, denn in Ostanatolien hat die Schneesaison begonnen. Das hatte ich ja so früh im Jahr noch nicht erwartet.
Herzliche Grüße zurück!