
Ohne Plan, ohne Ziel, ohne Ort
Wie unglaublich viele Radreisewochen sind es, die da plötzlich frei vor mir liegen, ohne jede von außen vorgegebene Struktur. Anfang August breche ich von Istanbul auf, 90 Tage Aufenthalt in der Türkei sind erlaubt, also muss ich – ein paar Weihnachtsheimreisetage übrigbehaltend – etwa Mitte Oktober nach Georgien ausgereist sein. Das Land ist riesig, also bietet die Zahl 90 immerhin einen kleinen planerischen Rahmen: Ich kann nicht nur im Zickzack fahren. Dennoch gibt es natürlich unzählige Wege vom Westen in den Osten des Landes. Einen einzigen Fixpunkt habe ich: Kappadokien, das möchte ich sehen. Ansonsten: Nichts. Kein Plan, kein Weg, kein Zwischenziel, keine Taktung. Freiheit total! – denke ich vor der Abfahrt, in einer Mischung aus Euphorie und Bangen.
Denn: Es ist gar nicht so einfach, ohne jede zeitliche Taktung und ohne jeden Plan unterwegs zu sein. Wann gab es das zuletzt in meinem Leben? Es müsste die Studienzeit gewesen sein. Und auch nur deren erste Jahre, lange vor den Abschlussprüfungen. Seither war immer ein äußerer Rahmen da. Prüfungen, studentische Jobs, Referendariat, die Kinder, als sie klein waren, Berufseinstieg, die Kinder, wie sie größer werden, Ergänzungsstudium, immer routinierterer Arbeitsalltag, Familie, Arbeit, Familie, Arbeit. Taktung wohin das Auge blickt.
Und nun das: Ich sitze vor der Landkarte … und … weiß … nichts.
Also gut: Von Istanbul nach Kappadokien. Richtung Südost. Wenn ich nicht ganz direkt fahre, sind es zwischen 1000 und 1500 Kilometern. Drei Wochen? Vier Wochen? Sechs Wochen? Welche Zwischenorte? Welche Strecke überhaupt? Woher soll ich am Morgen wissen, in welche Richtung ich weiterfahren will? Wie soll ich eine Entscheidung über meinen Abendort treffen?
Die Strukturlosigkeit des völlig freien Unterwegsseins überfordert mich, das merke ich schnell. Ich ertappe mich schon vormittags auf dem Rad dabei, wie ich mit den Augen das potentielle Ankommensgebiet nach Übernachtungsmöglichkeiten abtaste. Warmshowers, IOverlander, park4night, GoogleMaps und Booking öffnen sich mir öfter auf dem Handy als mir bewusst ist. Offenbar suche ich. Suche am Vormittag, was am Abend sein wird. Suche am Montag, wo ich am Wochenende sein könnte. Suche jetzt schon, in welchem Wochenrhythmus ich mich später der georgischen Grenze nähern werde.
Das alles geschieht unbewusst. Aus einem Bedürfnis heraus, dass ich ohne jegliche zeitliche Planung irgendwie nicht unterwegs sein kann. „Wir planen immer so ungefähr eine Woche im Voraus“, plötzlich fällt mir dieser Satz von befreundeten Radreisenden wieder ein. Oh ja. Tatsächlich brauche ich das auch: Ein vages Wissen, wohin es weitergeht, eine Strukturierung der Ziellosigkeit durch Zwischenwegmarken. Einfach nur losfahren, mit Entscheidungsmöglichkeiten an jeder Ecke, das funktioniert für mich gerade nicht.
Warum eigentlich nicht? Was suche ich? Was brauche ich? Eigentlich könnte ich doch von morgens bis abends frei und unbeschwert im Sattel sitzen, nicht wissend, was der Lenker gleich tun wird. Denn Ankommensvertrauen gewinne ich in den ersten Tagen dieser Reise schon zuhauf. Nach wenigen Nächten ist mir klar, dass ich in diesem Land quasi überall und in wenigen Minuten eine Übernachtungsmöglichkeit finden kann. Darum muss ich mich nicht sorgen.
Warum also kann ich nicht einfach auf dem Rad sitzen, jede einzelne Minute Natur und Kultur einatmen und mich der Spontaneität hingeben? Warum kann ich mir diese Vielzahl glücklicher Reisemomente nicht wie auf eine Perlenkette fädeln, mich daran entlang hangeln und zufrieden sein? Warum brauche ich Zwischenziele?
Weil jede Perlenkette an ihren beiden Enden einen Abschluss hat und aufgehängt sein will? Um bei diesem Bild zu bleiben: Keine Kette schwebt im luftleeren Raum. Das Hintereinander der intensiven, mich beschenkenden Momente braucht kurzzeitige Verankerungspunkte als Halt. Und diese muss ich mir auf der Reise suchen, immer wieder. Befestigungspunkte für meine Perlenkette.
Ich sinne im Laufe meiner ersten Radreisewochen viel darüber nach, möchte ich doch ein Jahr in diesem Reisezustand verbringen. Da sollte ich mich schon gut kennenlernen und verstehen, was ich brauche, welche meiner Bedürfnisse essentiell sind, worin ich Halt finde, was mir gut tut und was eben nicht.
Mir scheint, dieses mein Bedürfnis nach Zwischenzielen als Halt hat im weitesten Sinne mit dem Begriff Zuhause zu tun. Ein Zuhause ist ein Ort, wo man Zugehörigkeit und Ankommen fühlt, wo man Daseinsberechtigung und Geborgenheit findet. Wie jeder Mensch brauche ich das natürlich.
Viele Langzeitreisende sind zu zweit unterwegs und finden dadurch mehr Zugehörigkeit und Geborgenheit schon in ihrer kleinen Reisegemeinschaft. Als Alleinreisende, zumal auf dem Rad, habe ich mehr Arbeit damit, mir dieses Zuhause immer wieder zu schaffen. Kein schützendes Blech schirmt mich vom Außen ab, ich bin zwangsläufig permanent der Außenwelt geöffnet, also auch: ohne Hülle ausgeliefert. Auf meinen bisherigen Radreisen, maximal 5-6 Wochen lang, war fehlende Geborgenheit nie mein Problem. Allerdings hat man auf solchen kurzen Reisen ja auch das Ende der Alleinzeit direkt vor Augen. Nun liegt eine sehr lange Zeit vor mir, und ich werde mich intensiv um mich kümmern müssen.
Was taugt mir also als Zuhause, als Ankommensort?
Manchmal kann es ein Zeltort sein, der einen solchen Halt gibt. Wenn ich frühzeitig am Nachmittag einen Platz finde, in dem das Außen, die Natur in ihrer Schönheit mich anstrahlt, wenn ich dann mein kleines „Haus“ inmitten der staunenmachenden Umgebung aufbaue, dann kann ich dort sehr gut zwischenzeitlich Geborgenheit empfinden. – Hier übrigens eine wichtige Reiseaufgabe für mich: Ich sollte früher am Tag bereit sein anzukommen. Weniger „schaffen“ wollen. Kurzum: Tempo aus der Reise nehmen. – Denn viel zu oft stellt sich mir kein wohliges Ankommensgefühl ein, weil ich zu spät dran bin und meinen Schlafort dann einzig nach pragmatischen Gesichtspunkten auswähle: Er muss sicher und unsichtbar, schlafermöglichend und wassernah sein, so etwa. Aber das allein schenkt mir noch kein Zuhausegefühl, solche Übernachtungsorte sind nur Mittel zum Zweck: Dass die Augen in Ruhe zugehen können und der Körper seine physische Erholung bekommt. Dies werden manchmal Abende, an denen ich nur übernachte, an denen ich rastlos neben meinen kochenden Nudeln sitze und mich frage, was ich jetzt eigentlich tun soll. Manchmal mit Menschen, manchmal ohne Menschen. Auch mit fremden Menschen nämlich kann es einsam sein, wenn das Gespräch über Smalltalk nicht hinausreicht. (Darüber wird später zu schreiben sein.)
Was suche und brauche ich also?
Meine Familie ist weit weg (zum Glück gibt es immerhin WhatsApp&Co), und die mich umgebenden Menschen in ihrer Kultur sind mir im Wesentlichen fremd. Hier in der Gegend gibt es nicht mal europäische Touristinnen und Touristen – wie gern würde ich mich im Moment über so manches austauschen. Manchmal fühle ich mich fast schon wie ein Alien, weil man mich – alleinreisende Frau in europäischer Kleidung und Kleidungsfreizügigkeit – nicht einordnen kann. Damit scheine ich bei manchen Menschen eine Verblüffung ähnlich wie eine Reisende auf einem fliegenden Teppich hervorzurufen. Die große Unsicherheit bewirkt Distanz mir gegenüber. Man schaut durch mich hindurch oder redet über mich. Das tut erstaunlicherweise weh.
Ja, ich habe hier unterwegs kein Rudel, zu dem ich gehöre. Zugehörigkeitsgefühl muss ich mir auf andere Weise erschaffen. Ich weiß auch: das geht, das kann ich. Denn ich bin ja sehr oft und sehr gern mit mir allein. Genau auf diese massiven Alleinzeiten hier auf der Reise hatte ich mich sehr gefreut. – Und nun suche ich dem zu entfliehen?
Nun, nicht direkt. Ganz allein mit mir, da wird es in der Regel gut. Einsam fühle ich mich im Moment nur unter Menschen, zu denen ich offensichtlich nicht gehöre oder gehören kann. In den Städten, auf dem Zeltplatz, da wo Menschen in organischen Gruppen sitzen und ich nebendran, da ist es einsam. Es wird meist nicht mal besser, wenn ich dazugeholt werde (was ja dank Gastfreundschaft ständig geschieht – zum Tee). Aber wenn ich keine Energie für Gesprächs- und Begegnungstiefe habe, weil die Initiative dazu von mir kommen muss, dann bleibt ein Gefühl der Fremde, egal wieviel Gastfreundschaft mir entgegengebracht wird. Besser fühlt es sich für mich dann an, ganz allein mit mir zu sein. Denn das – ich sagte es ja schon – kann ich sehr gut.
Aber zum guten Alleinsein brauche ich eben einen Zuhauseort, wo die äußere Umgebung mir zur inneren Heimat taugt, für kurzzeitig. Einen Platz, wo ich sitzen will, wo ich lesen oder schreiben kann.
Diese Plätze, diese Orte muss ich mir hier auf der Reise permanent suchen und schaffen. Im Moment finde ich sie in meinen Pausentagen, in meinen kurzzeitigen eigenen vier Wänden, der Hostelterrasse oder der Hotellobby. Viel öfter noch würde ich mir solche Plätze im öffentlichen Raum suchen, in Straßenteestuben, auf Parkbänken, an Lokanta-Tischen. Doch noch gelingt mir das selten. Zu anders ist offenbar die Umgebungskultur. Wenn ich in der Öffentlichkeit sitze, bin ich zu intensiv mit Beobachten und Erstaunen, mit Verwunderung und oft auch mit Mich-fremd-fühlen beschäftigt. Alles prasselt auf mich ein. Der Rückzugscharakter meiner eigenen Hotelzimmerwände tut mir gerade gut.
Geborgen sein kann ich aber nicht nur in den eigenen vier Wänden – und was sind schon Wände? Gute „Vibes“ sind wichtig: der Ort muss zum Wohlfühlen und Ankommen taugen, also das Gefühl erzeugen können, jetzt „da“ zu sein und dazuzugehören. Viele Plätze in der Natur schenken mir dieses Gefühl. (In der dauernden Bewegung des Radfahrens selbst übrigens finde ich es für mich eher selten. Ich brauche immer Komponenten von Stille und Ruhe. Darum auch halte ich beim Radeln oft an. Ich schaue und staune und stehe dann einfach nur in der Welt herum. Um eine kurze Weile „da“ zu sein.)
Und ein Stück Gewissheit brauche ich, um mich zu Hause zu fühlen. Das permanent Ungewisse einer Dauerreise ist für mich derzeit harte Arbeit. Im Moment schaffe ich es daher nicht (und will es nicht schaffen), täglich und begeistert wild zu zelten. Eine gebuchte Unterkunft in drei Tagen, ein Mittagspausenzwischenziel – Städtchen S. – auf der Landkarte, eine Abendgegend für die Übernachtung – etwa zwanzig Kilometer hinter B. – oder auch nur der Eckpunkt, dass ich, auf welchem Wege auch immer, auf jeden Fall durch M. fahren möchte, sind mir Ankommensgewissheiten, die ich im Moment offenbar brauche. Physische Orte als zukünftige Daseinstatsachen sind mir derzeit eine Notwendigkeit, die es zu akzeptieren gilt.
Ohne Gewissheiten, ohne eine Minimalmenge an Planung verliere ich mich in einem Zuviel an Möglichkeiten, empfinde ich Überforderung in der Buntheit von allem. Wenn mir kein Muster sichtbar wird, ist mir Offenheit kein Gewinn mehr. Geschlossenheit erlebe ich im Moment nicht als Käfig, sondern als Geländer. Und Geländer braucht man ja immer, um nicht ins Stolpern zu geraten. Wenn wir im Leben immer wieder laufen lernen, in verschiedenen Bereichen, dann brauchen wir haltende Hände. Und wo sich die gerade nicht finden, halten uns eben Geländer.
Nun, dafür sind Reisen ja gut: Zu lernen, was einem wichtig ist, zu lernen, welche Bedürfnisse man hat, zu lernen, diese Bedürfnisse ernst zu nehmen und sich nicht ins Hadern damit zu begeben. Natürlich schaue ich, vor allem bei Instagram, wie andere Reisende dies alles machen. Viele Radreisende sind viel spontaner und ungeplanter unterwegs, andere legen ihre Strecke sehr genau und penibel vorher fest. In diesem Spektrum liege ich irgendwo in der Mitte. (Also doch alles normal mit mir;-))
Was ich selbst brauche und suche, dies herauszufinden, dafür ist eine solche Reise unter anderem da. Möglicherweise hat Reisen genau dieses Ziel: Sich selbst kennenzulernen und sich selbst zu erfahren.
Gerade erfahre ich also über mich: Ganz ohne Plan, ohne Ziel, ohne Ort kann ich doch nicht unterwegs sein. Meiner Reise wird aber kein einziger Freiheitsgrad genommen, wenn ich meinem Bedürfnis nach zwischenzeitlichen Ankerpunkten nachgebe. Als Ausgleich zu den vielen freischwebenden Perlen auf der Kette. Damit die Waage im Gleichgewicht bleibt.
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Von Wegen und Schritten hier und da
30. Oktober 2024
10 Kommentare
Gabriela
Mein Kommentar vorhin hätte eigentlich hierher gehört….
rebisreistrad
Danke ganz sehr für Deine Grüße, sie bedeuten mir sehr viel! Ich übertrage sie jetzt nicht hierher, hab sie ja auch dort gut gefunden.
Ja, es ist manchmal direkt unheimlich, dass wir in Sekundenschnelle verbunden sein können. Andererseits ist das – für mich jedenfalls – auch Voraussetzung für eine solche Reise, weil ich mich sonst kaum für so lange und so weit weg von den Kindern trennen würde.
Herzensgrüße zurück in Dein „Schuluniversum“. (Unseres beginnt ja erst in 14 Tagen. Aber spätestens dann werde ich mich ganz schön häufig dort hinein denken. Es ist mir noch sehr unvorstellbar und unwirklich, ein ganzes Jahr weg zu sein …)
Christian
Liebe Uta,
der Text hat mich umgehauen. Als gerade 61-jähriger, der schon viel, wenn auch anders als du, unterwegs war, bin ich sehr ergriffen, wonach du auf deiner Reise suchst, und was dich herausfordert. Erst vor wenigen Tagen stellte ich in einem Gespräch die Frage, wie wir mit Freiheit umgehen, wenn wir sie haben. Sind wir damit überfordert.
Warum braucht es Ziele, unabhängig davon ob wir auf einer langen Radreise sind? Ich habe schon mehrfach daran gedacht, einfach wieder mal auf die Reise zu gehen. Daher folge ich dir seit geraumer Zeit, weil ich das bewundernswert finde, wie du das bisher und besonders aktuell für dich löst. Ich habe es bisher nicht getan. Der Text jetzt hat eine Menge in mir ausgelöst, über das ich in den nächsten Tagen und Wochen nachdenken werde.
Wünsche dir weiterhin ein gutes Gelingen, ein besseres Finden, Ausgeglichenheit, genau das Empfinden, dass du dir wünschst. Bin weiterhin uns sehr gespannt dabei.
rebisreistrad
Danke, lieber Christian, für Deine Worte.
Ja, es ist ein intensives Betrachten seiner selbst auf so einer Reise. Dafür macht man sie ja, glaube ich. Ich bin auch nicht viel jünger als Du, und bei manchem Erfahrungen und Reflexionen der letzten Wochen dachte ich mir schon, ich hätte sie ruhig früher im Leben machen dürfen. Aber besser jetzt als gar nicht ….
Gutes Weitervorangehen auf Deiner Suche!
Sofasophia
Du Liebe
Ich bin tief berührt von diesem Text, der an so viele Themen, die mich selbst – wenn auch in einem gänzlich anderen Kontext – umtreiben. Die Reise, deine Reise, gleicht dem Leben, das Unterwegssein, dieses Ohne-Plan-Sein, diese Sehnsucht nach Sinnhaftigkeit vermutlich auch, diese unzähligen Fragen, die unterwegs auftauchen, diese Sehnsüchte, diese Bedürfnis nach Eingebundensein und Zugehörigkeit … ach, du hast es soo auf den Punkt gebracht und dafür bin ich dir enorm dankbar.
Das hier wird ein Reisebuch mit Tiefgang … ich bin froh, wie genau du hinsiehst und was du für dich dabei erkennst und dass du dafür Worte findest.
Möge die Weiterreise dich immer näher zu dir bringen.
rebisreistrad
Danke, liebste D., für Deine Worte und Deine Spiegelung. Eine Reise gleicht dem Leben. Ja, immer. (Sonst ist es wohl keine Reise.) Das Schöne beim Reisen – also jedenfalls hier jetzt bei mir – ist, dass mir dieser Text sofort und auf der Stelle selbst geholfen hat. Ich konnte in den Tagen seither genauer hinschauen, erkennen, mich ernst nehmen und bin einen großen Schritt weitergekommen. Wenn das mal im Leben immer auch so einfach und so schnell gehen würde …
Sei umarmt!
Joachim
„Befestigungspunkte für [deine] Perlenkette“ suchst du. Ein passendes Bild, nehme ich an, sonst hättest du es nicht gewählt.
Viel von dem, was du schreibst, kann ich nachvollziehen; die Auslandsaufenthalte haben sich oftmals ähnlich angefühlt: Wo ist man daheim, zuhause, verankert; wo hängt man die Kettenperlen fest und in welcher Reihenfolge?
Im Mittelalter, so sagt der Mediävist, habe „man“ (wer immer das konkret war) ein Bild(nis) gehabt von einem Ziel. Kein echtes vor Augen, nichts Gegenständliches und auch keinen Ortsnamen. Eher den Gral als Vorstellung oder das ewige Leben. Danach strebte man denn.
Heute fährt Uta Rad 😉 .
Konkret übrig blieb und bleibt vielleicht „Zuhause“ als Gefühl der Geborgenheit in einem selbst?
Ich bin begeistert von deiner Art zu schreiben, liebe Uta, du fasst den Menschen in seinem Inneren an. Es gelingt dir, bewusst und unbewusst, das Wesentliche zu erfragen und in deinem Reisen Gängiges zu hinterfragen in einer Offenheit, die ich großartig finde. Das ist mutig; unabhängig von der Tatsache, dass du dich als Frau in unangemessener Bekleidung mit unerwartetem Fortbewegungsmittel in (noch) unbekanntem Terrain bewegst. Und ganz philosophisch: Damit formulierst du ein Menschenbild, dass nämlich der Mensch gut sei, dir offen begegenen wird, andere dich erstaunen machen, wie du sie erstaunst, man dich bestaunt, wie du sie. Und dass darin nichts Gefährliches oder Bedrohliches sei, sondern allein Bereicherndes sein wird.
Dein Staunen ist aber kein wissenschaftliches, es ist eines, das unverstellt daherkommt, und darin findest du ja vielleicht dein Zuhause-Sein des jeweiligen Moments.
So jedenfalls habe ich das verstanden.
Liebe Uta, ich freue mich auf weitere Texte – Berichte wäre mir zu wenig gefasst in der Begrifflichkeit – von dir!
Schöne Tage wünsche ich, mit Regen, wenn du ihn brauchst, immer Luft im Reifen, keine Rückenschmerzen und am Abend ein Plätzchen, an dem du zuhause sein kannst mit dir.
Herzliche Grüße, Joachim
rebisreistrad
Lieber Joachim,
wie sehr ich mich über Deinen Kommentar gefreut habe! Danke!!! (Ich denke mal, ich ordne dem Namen jetzt die richtige Person zu – es passt einfach alles zu meinem Lehrerzimmernachbarnkollegenfreund:))
Und ich werde ein bisschen rot ob des Lobs …
Ja, das Staunen. Es ist eine für mich sehr wertvolle Perspektive, das Angestarrt- oder – neutraler formuliert – Betrachtetwerden als Bestauntwerden zu sehen, danke für diese Sicht. Staunen, Bestaunen, Erstaunen als etwas, das wir zuweilen verlernen, und das unendlich kostbar und wichtig für unser Zusammenleben als Menschen ist.
Wie wohl die Menschen über mich denken, wenn sie mich als so (vermeintlich) fremdartiges Wesen daherfahren sehen? Ich glaube, ich habe in den ersten Wochen mehr darunter gelitten als es nötig gewesen wäre. „Nötig“ im Sinne, dass ich vor allem seither, seit ich jenen Text schrieb, aber eigentlich schon vorher merk(t)e, wie gut man mir begegnet. Das ist ja ohnehin meine wichtigste Erfahrung auf allen meinen bisherigen Radreisen: Die Menschen sind gut. Leider nicht ganz 100% der Menschen, und die „Nichtguten“ – plakativ ausgedrückt – sind in der Regel lauter. Während mir hier unter die Reifen durchgängig das viele Gute, das unendlich Warmherzige der Menschheit kommt. Hier in der Türkei nochmal eine Stufe mehr als auf dem Balkan und überhaupt.
In den letzten Tagen war ich versonnen und versöhnt unterwegs, hatte großartige Begegnungen und zu mir passende Landschaften, im Moment sitze ich am späten Mittag in einer Hotellobby (wegen WLAN) und versuche zu lernen, mir den Blick auf die Uhr zu schenken und keinen Weiterfahrdruck zu machen … und bei all dem stimmt es: Man trägt sein Zuhause in sich selbst. An diese Grunderfahrung versuche ich mich zu halten, wenn ich abends auf Übernachtungsplatzsuche bin … auch wenn die nicht immer gleich stimmig endet. Bisher bin ich immer äußerlich und innerlich gut untergekommen, mein Vertrauen wächst …
Ich freue mich auf und über weiteren Austausch. (Unser „bestes Kollegium Deutschlands“, wie Ruth schrieb, fehlt mir jetzt schon … und Ihr habt noch nicht mal richtig angefangen mit dem Schulemachen …)
Grüße von Herzen, Uta
Gina
Liebe Uta,
wie du einfach in den ersten Wochen deiner Reise schon zusammenfassen kannst, was für mich locker ein halbes Jahr lag gebraucht hat bis ich zu ähnlichen Erkenntnissen kam. Wahrscheinlich weil du vorher schon deine Alleinreisen gemacht hast, das sind wertvolle Lehrer. Ich habe auch für mich festgestellt dass diese Leitplanken (wie wir immer gesagt haben) wichtig sind. So ganz ohne Plan los war auch nichts für uns. Das Locker lassen fiel uns allerdings viel schwerer, es war halt das erste Mal auf so einer Reise.
Meien Erkenntnis war, Zwischenziele geben Kontext und Kontext hilft auch Verstehen und Erfahren. Wenn wir alle 4-6 Tage eine Unterkunft angesteuert haben, konnten wir durch diesen Stopp und auch den Ortswechsel in 4 Wände erst reflektieren was die Tage zuvor geschehen war. Diese kleinen Stopps tun gut um das hinter einem zu betrachten und auch die Distanz (zeitlich und in Kilometern) nach vorne zu verstehen. So früh wie du das auch schon für dich erkennst wirst du sicher in diesen Punkten über das Jahr hinweg einen sehr guten Weg finden und ich finde gut, dass du damit keine „Erwartungen“ an sich hast. Alles Teil vom Prozess 😉
Das mit dem allein sein/fühlen muss ganz anders sein als bei uns zu zweit. Wir hatten ja immer den Austausch miteinander und dadurch auch das direkte Reflektieren von Momenten. Gleichzeitig hat auch das seien Tücken, nicht immer ist der Rhythmus zudsmmenpassend, manchmal habe ich mich auch gefragt ob ich alleine die gleichen Entscheidungen gwteoffen hätte oder ob ich es mir manchmal „leicht mache“. Das durch mich durch schauen habe ich auch erlebt, in der Türkei und besonders in Marokko, wo man(n) dann eben auch nur mit meinem männlichen Begleiter sprechen will. Eine seltsame Situation mit der ich mich auch schlecht abfinden konnte.
Es ist schön deine Gedanken zu lesen und sich so sehr darin wiederzufinden. Wärst du doch mal schon vor 2 Jahren losgefahren, dann hätten wir diese Erlebnisse zeitgleich geteilt und ich hätte sicher viel von deiner Sicht auf die Dinge für mich gelernt 😉
rebisreistrad
Liebe Gina,
auch wenn ich spät antworte (man hat ja zwischendurch mit Reisen zu tun:) – ich habe mich sehr über Deinen Kommentar gefreut. Irgendwie schön, dass wir die gleichen Erfahrungen machen. Mein zeitlicher „Vorlauf“ ist ja sicher wirklich meinen bisherigen Alleinreisen geschuldet. Und andere Menschen erleben diese Dinge ganz anders, haben andere Bedürfnisse, suchen sich andere Leitplanken und gehen ganz anders vor bei der zeitlichen und räumlichen Taktung ihrer Reise.
Ja, dass das Gemeinsamreisen dann wieder andere „Haken“ hat, das glaube ich sofort. Es ist eben nichts nur gut oder nur schlecht, um es mal ein bisschen platt zu sagen. (In letzter Zeit kommt es mir vor, dass im Insta-Universum mehrere der Radreisepaare phasenweise getrennt reisen. Das hat sicher damit zu tun, dass man andere Erfahrungen macht.)
Naja, und wäre ich zwei Jahre früher gereist, wäre ich damals nie nordwärts über den Balkan gefahren, wäre Euch nie begegnet – und wir hätten es auch wieder nicht austauschen können 😉 (Und überhaupt wäre das total schade gewesen.)
In einer unserer künftigen Reisejahre schaffen wir vielleicht nochmal eine Parallelreise. Ich beabsichtige ja nicht, nach dieser Reise damit aufzuhören …
Seid von Herzen gegrüßt
Uta