Losgefahren – ein Tempowechsel
Es war ein heftiger Sprung letzte Woche Freitag. Nach Tagen und Wochen dichtester Vorbereitungszeit, in der ich bis zum Schluss eilen muss und Sorge habe, nicht alles zu schaffen, nach einem Packprozess, der wieder einmal bis zur letzten Minute dauert – ich lerne es in diesem Leben wohl nicht mehr -, sitze ich plötzlich im Zug. In einer S-Bahn zur nächsten Stadt, genau genommen. Von dort geht es weiter und weiter, Zug um Zug, bis ich 7 Züge und Busse, genau 77 Stunden später letztlich in Istanbul angekommen sein werde.
Wie plastisch hatte ich mir diesen Sprung vorher ausgemalt. Wie mit einem Mal alles von mir abfallen, wie eine unendlich weite Ebene voller Zeit vor mir liegen würde, wie ich mich in einem neuen, ruhigen Lebens- und Schaffensrhythmus wiederfinden und alle Bedrängnis von mir abfallen würde. De facto ist es … ganz anders. Na klar. Wir können uns das Unbekannte eben selten gut vorstellen.
Mitnichten fällt sofort alles von mir ab. Zumal eine meiner zahlreichen Pack- und Organisationslisten noch voll ist von „Während-der-Fahrt“-Dingen. Kontakte, digitale Aufgaben, Reiseroutenerkundigungen, selbst kleine Nähreparaturen stehen darauf. Und ich? Fühle mich erstmal dumpf, fast gelähmt in der vor mir liegenden zeitlichen Freiheit.
Zum Glück bietet die Reise anfangs noch genug Strukturierung: Umstiege und Gleiswechsel, die man bitte nicht verpassen sollte, Verspätungen mit Anschlusszugfragen, Schlafplatzsuche auf dem Münchner Hauptbahnhof, Essenseinkäufe für die jeweils nächste Fahrtetappe, herausfordernde Ein- und Ausstiege mit Radgepäck (besonders der österreichische IC ist Königslevel).
In Villach dann habe ich acht Stunden Zeit bis zur nächsten Abfahrt. Zum ersten Mal nehme ich mit Staunen wahr, dass nichts und niemand mir gerade sagt, was jetzt zu tun ist. Und dass genau so nun für Monate mein Leben aussehen wird. Sehr unwirklich.
Ich suche mir einen Ruheort für diesen Tag: Ein Park wird es, eine schattige Bank. Ich kann mich ausstrecken, habe Essen und Trinken genug, telefoniere mit einer Freundin, schreibe ein wenig Tagebuch. Ansonsten liege ich da und schaue in die Baumkronen über mir. Nichts, nichts außer dieses. Still wird es in mir, unglaublich still. Eine Vorahnung dessen, wie sich die nächsten Monate anfühlen werden.
Am Abend fahre ich zum Verladeterminal für den Optima-Express, den Autoreisezug zwischen Villach und Edirne, in dem ich ein Liegewagenbett und einen Stellplatz für mein Rad gebucht habe. „Willkommen in der Türkei!“, sagt schon das gesamte Vorbereitungsprozedere. Großfamilien mit professionellen Handwagen voller Kühltaschen, man sitzt und isst in großen Kreisen beisammen und ist gelassen. Niemand drängelt beim Auto-Beladen, niemand wirkt ungeduldig, niemand scheint so viele Fragen zu haben wie ich, die ich mich nicht nur um die freistehende Befestigung meines Radls auf der Fahrt sorge, sondern auch voll des Grübelns bin, wie all die vielen Waggons jetzt rangiert und aneinander gehängt werden sollen.
Zum Glück kommen irgendwann die Mücken – das Mückenspray ist natürlich beim Rad:( – und lenken mich ab. Als es dunkel wird, dürfen wir einsteigen. Mein Schlafplatz ist zunächst noch etwas ungeklärt – it’s Balkan! – bis ich bei einem wahnsinnig gastfreundlichen türkischen Ehepaar im Abteil lande. Volltreffer, würde ich sagen. (Als ich einmal kaltes Wasser ablehnen möchte, weil sie ja schließlich nicht für mich mitgeplant haben, heißt es nur: „Wenn es alle ist, ist es alle. Was wir dann machen, sehen wir dann.“)
Von jetzt an schmilzt der Reisezustand zusammen: Essen, schwitzen, trinken, schlafen, schwitzen, dämmern, aus dem Fenster auf den vorbeiziehenden Balkan starren, schwitzen, bewirtet werden, Smalltalk, liegen, schwitzen, sich in die Vergangenheit hineinerinnern, wo wir schließlich immer unklimatisiert gereist sind ohne dies irgendwie zu bemerken, gleich nochmal doller schwitzen, den Speisewagen besuchen, die vielen kleinen DDR-Zug-Details wahrnehmen (mit genau diesen Zügen reisten wir früher nach Ungarn und Bulgarien), sich zur Mittagsruhe legen, schweißgebadet aufwachen, im durchwindeten Speisewagen ein Eis mit Tee und ein paar Türkisch-Lektionen zu mir nehmen, immer wieder im Abteil aufs Feinste bewirtet werden, dabei schwitzen, so vergehen eine Nacht, ein Tag, noch eine Nacht, noch ein Tag. Konturloses Dahinziehen der Zeit. – Was für ein Kontrast zu meinem, unseren sonstigen Leben, in der wir in eine nie endende Kette an zeitlich getakteten Abläufen verstrickt sind. Perlenschnüre von Ordnung, Optimierung und Effizienz vs. Fließenlassen von allem und jedem.
Ich komme im Reiseleben an.
Fast fällt es nicht auf, dass der Zug wahnsinnig viel Verspätung hat. Was machen schon 12 Stunden bei dieser Reisedauer. Die Mitreisenden bleiben gelassen, niemand – außer ein Österreicher, mit dem ich mich bei einem der beiden Bahnsteigstopps unterhalte – denkt an das Einfordern von Entschädigung. Alle nehmen es wie es eben kommt. Den Ausdruck „Zeit verlieren“ gibt es in vielen Sprachen nicht. Wie auch. Das Leben lebt sich ja weiter, die Zeit ist nur anders gefüllt. Dann fahren sie eben heute nicht mit dem Auto weiter, sondern gehen erstmal essen, anschließend vielleicht in Edirne übernachten, beschließen meine Abteilnachbarn.
So würde ich es auch machen, würde nicht in Istanbul meine Familie warten. Eine Woche wollen wir hier gemeinsam verbringen, zum Abschied. Ein erster Tag dieser Woche ist bereits „weg“, weil ich hier noch im Zug sitze, ertappe ich mich bei einem Rest von Effizienz- und Optimierungsdenken.
Gelassen bleiben: Dies wird eine meiner Hauptlernaufgaben der nächsten Monate, merke ich schon jetzt. Gelassen bleiben also, als endlich die türkische Grenzstation erreicht ist und nach zügiger Passkontrolle (wir bekommen übrigens keine Einreisestempel – dies wird in der Folge noch eine Rolle spielen) nicht etwa so schnell wie möglich weitergefahren wird, sondern alle Reisenden erstmal zu Imbiss- und Duty-Free-Ständen strömen: Was sein muss muss sein. (Wir wenigen Fremden schließen uns an und machen alles ganz genauso. Dies ist in der Fremde eh oft der beste Weg.)
Der gelassene Umgang mit Zeit wird – wir sind nun endgültig in der Türkei angekommen – ergänzt durch die unglaubliche hiesige Hilfsbereitschaft. Ein Zugschaffner ruft beim Busbahnhof an – es gibt heute Abend noch drei Busse nach Istanbul -, und von da ab geht alles ganz schnell.
Ich setze mich auf mein bepacktes (im Übrigen nach der holprigen Fahrt völlig unversehrtes) Rad und rase die 5 Kilometer zum Edirner Busbahnhof. Das schnelle Treten im ländlichen Abendlicht fühlt sich wie Fliegen an – Radreiseglück! ich stoße einen lauten Jubelschrei aus.
Am Busbahnhof bleiben mir 13 Minuten bis zur Abfahrt. Eine kurze Frage nach Hilfe, und schon lässt die Frau ihren Kiosk allein, um mich bei der Hand zu nehmen: Ticketschalter, Radtransportfragen, Ticketkauf, Busplattform, das alles in wenigen Minuten. Der Bus rollt ein, drei hilfsbereite Männer betten mein Radl sanft im Gepäckfach, und für mich selbst gibt es oben breite bequeme Sitze vom Feinsten. So vornehm bin ich noch nie busgereist. Istanbul, ich komme! Euphorie überkommt mich.
Leider verschlafe ich einen Großteil der Fahrt, verpasse das Marmara-Meer zu meiner Rechten (naja, es ist ohnehin dunkel) und wache erst auf, als wir in Istanbul Esenler ausgeworfen werden: Ein Busbahnhof von der Dimension einer mittleren Kleinstadt. Bus- und Menschenscharen, hier kennt man das Wort Nacht nicht. Leute winken mir zu, grüßen und befragen mich, inmitten all der Menschen könnte ich jetzt gut die Nacht verbringen, würde da nicht meine Familie warten.
Also auf, zwischen den Busrudeln in den Istanbuler Nachtverkehr, der gemäßigt daher kommt, etwa so wie es in unseren Städten tagsüber ist. (Letztes Jahr kam ich an einem Freitag Nachmittag an, das war höllisch und vermutlich nicht ungefährlich. Was mir nur wegen meines Adrenalinpegels in dem Moment nicht weiter auffiel.) Jetzt also fahre ich durch die nächtliche Stadt, es geht auf und ab, insgesamt 11 Kilometer. Von oben das Goldene Horn erblickt, hinuntergerollt, zum Orient-Express-Bahnhof, und dann bin ich plötzlich angekommen, im Hotel, bei der Familie. Wir kehren (nachts um halb drei!) in einen Imbiss ein, so ist das Leben hier.
Zum Glück war ich letztes Jahr schon in dieser Stadt, „muss“ also keine touristischen Highlights abarbeiten, zumal die Kinder das auch nicht als ihr primäres Ziel sehen. Wir verleben eine gemütliche Familienwoche, viele Zusammen-Zeiten, Spaziergänge, gutes Essen, ein paar Shopping-Wege, ein Hamam-Besuch mit der Tochter (es war unser erstes Mal – wow!), und schon ist die Woche um.
Gestern ist meine Familie abgereist, das tut ein wenig weh. Von jetzt an bin ich wirklich allein unterwegs. Allein, und mit aller Zeit der Welt. Nächster Termin: Weihnachten. Da werden wir uns irgendwo wiedertreffen. Bis dahin lebe und reise ich in den Tag hinein. Ich bin sehr gepannt. Und ein bisschen aufgeregt.
Um mich noch ein wenig zu sortieren, hänge ich einen weiteren Istanbultag an. Sitze hier, trinke Tee, schlendere durch die bekannten Gassen, fahre nochmals zur Flughafenpolizei (die Geschichte erzähle ich bald noch), schreibe, schaue von der Hotelterrasse auf die Stadt …
Innere Ruhe. Ein wunderbares Gefühl.
Und morgen setze ich mich aufs Rad. Per Fähre auf die asiatische Seite hinüber, dann immer Richtung Südosten. Im Landesinneren, nicht an der Küste entlang, außer am ersten Tag. Immer der Nase nach, der Weg entsteht beim Fahren. Das Auf-die-Uhr-Schauen darf ich dabei gern verlernen.
8 Kommentare
Sofasophia
Wie gut ich alles nachempfinden kann, fühlen, riechen, mir vorstellen.
Möge die Weiterreise genau diese Qualität haben, dieses Wachstum, organisch, lebendig, inspirierend.
Ich freue mich aufs lesende Mitreisendürfen.
rebisreistrad
Danke für Deine Begleitung auf allen Kanälen! Es tut mir sehr gut, mich in keinem einzigen Moment auf der Reise allein zu fühlen <3
Gitte Herden
Beeindruckender Reisebericht! Genieße die Auszeit und lass alles auf dich einfach zukommen.
Alles Liebe und Gute für die Weiterreise.
Viele liebe Grüße,
Gitte
rebisreistrad
Vielen lieben Dank!
Ulrike
„Den Ausdruck „Zeit verlieren“ gibt es in vielen Sprachen nicht. Wie auch. Das Leben lebt sich ja weiter, die Zeit ist nur anders gefüllt.“
Das ist ein ganz wunderbarer Gedanke, den ich mir sehr merken werde.
Danke, dass du uns mit nimmst auf deiner so spannenden Reise! Ich wünsch dir gutes Losfahren morgen.
rebisreistrad
Danke für Deine Begleitung!
Ja, man sieht, während man sich in so einer anderen Art von Lebensfluss befindet, vieles plötzlich deutlicher, sieht manches klarer. Ich bin gespannt, was noch alles auf mich zukommt:)
Sigrid
Nachdem ich Deiner Reise schon auf Instagram folge, habe ich nun hierher gefunden und danke fürs Mitnehmen.
Mir geht es wie Ulrike mi dem Gedanken zum Ausdruck „Zeit verlieren“ – ein (be)merkenswerter Gedanke.
Gute Reise und viele schöne Begegnungen und Erlebnisse!
rebisreistrad
Danke auch Dir für Dein Dabeisein!