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Tee wie Türkei

Der wievielte Tee mag es sein, zu dem man mich einlädt, den man als Gruß und Geste vor mich stellt, in diesen zehn Tagen, da ich mit dem Rad durchs Land fahre? Der zwanzigste? Dreißigste? Irgendwann habe ich aufgehört zu zählen. Tee, meist im blütenförmigen Glas, als Symbol eines allgegenwärtigen Willkommenheißens.
Eine kleine Ahnung davon hatte ich bereits im letzten Jahr bekommen, als meine Reise im nordwestlichen Zipfel dieses Landes endete. Schon diese wenigen Tage haben Vorfreude geweckt auf die jetzige Fortsetzung, zumal mir von allen Seiten immer wieder von der allgegenwärtigen türkischen Gastfreundschaft erzählt wurde. Nun ist arge Vorfreude ja mit dem Risiko verbunden, dass sie zur Erwartung mutiert und Erleben verdirbt. Ich war also gespannt.

Und nun … ist es genau so. So wie vorhergesehen, und noch viel besser. Besser als ich mir je vorstellen konnte. Waren schon die Länder des Balkans, allen voran Albanien, Bosnien-Herzegovina und der Kosovo eine einzige Herzlichkeit, ist die Türkei noch einmal next level. Unglaublich, wie die Menschen hier auf mich zugehen, wie sie mit jeder Faser helfen, mich bewirten, meine Reise mitdenken, mich nie mit irgendetwas allein lassen, mir alles Erdenkliche zukommen lassen, selbst wenn ich gar nichts benötige.

Mein erster Gastgeber außerhalb Istanbuls, Deniz, ein Be-Welcome-Host, erwartet mich bereits an der Straße (obwohl ich ihm gar keine genaue Ankunftszeit geben konnte), um von diesem Moment an alles für mich und meine Reise zu tun: mir Essen vom Feinsten aufzutischen, meine Dinge zu waschen und zu putzen, mir alles anzubieten, was ich vielleicht brauchen könnte – Rettungsweste, Verbandszeug und Nähnadeln (leider habe ich alles selbst dabei:)) – und mich durch seine Stadt, durch Campinginfokarten der Türkei und durch Läden zu führen, in denen ein kleines Radproblem eventuell gefixt werden kann. Um auf meiner Weiterreise nichts dem Zufall zu überlassen, bekomme ich von ihm einen Crashkurs in wichtigen türkischen Ausdrücken und Fragestellungen, mit denen ich unterwegs um Hilfe und Unterkunft bitten könnte.

Dies aber wird gar nicht nötig sein, da man mir diese Hilfe stets von allein anbietet. An einem städtischen Übernachtungsort etwa gibt es zwar gar keinen Zeltplatz, man versucht aber trotzdem beharrlich und ausdauernd, mir einen zu beschaffen. Die Menschen sprechen mich an, schenken mir Essen und Tee und geben mir dann Tipps, wo ich mein Zelt aufbauen könnte. Sie führen mich zum jeweils nächsten Café, in dem sie eine solche Möglichkeit vermuten. Woraufhin deren Besitzer wiederum für mich herumtelefonieren und Lösungen suchen … Es ist bewegend, wie sehr sich alle kümmern. Obwohl dieses Städtchen nun wirklich keinerlei Zeltplatz bietet, wollen alle einen für mich kreieren. Ich selbst bleibe gelassen, genieße das Umsorgtwerden und teile nicht die Ängste der Menschen, dass ich die Nacht unsicher verbringen werde. Ich lege mich letztlich nämlich einfach auf eine Bank im städtischen Park und schlafe dort ganz wunderbar.

Ein weiterer Ort, den ich ungeplant aufsuche, weil ich wegen eines Wespenstichs am Fuß etwas Sorge vor der Reaktion meines Körpers habe und lieber nicht oben in den einsamen Bergen bleibe, empfängt mich in Form einer (stets nur von Männern besuchten) Teestube. Ich bekomme Tee und Wasser und alsbald, als ich nach einem Stückchen Wiese für mein Zelt frage, eine Einladung ins Haus einer alten Frau, die für mich kocht, mit mir isst, mir ihr großes Bett und Zimmer überlässt – während ich einfach nur meinen geschwollenen Fuß auskurieren soll.

Noch ein Dorf, noch ein warmer Übernachtungsort: Zwei Männer bringen mich, kaum dass ich sie angesprochen habe, zu einer Art Dorfküche. Setzen Tee auf, eine Frau aus dem Dorf bringt ein Tablett mit Essen, in der Moschee gibt es Toilette und Waschraum, man setzt sich zu mir, wir reden (leider nur mittels Übersetzungs-App), und als es schon längst dunkel ist, baue ich vor diesem wirtlichen Haus mein Zelt auf. Am Morgen hat man mir Gemüse neben mein Zelt gelegt und bringt weiteres Essen vorbei.

Und so geht es überall. Ich stehe noch unschlüssig am Straßenrand, da weist man mir schon die Richtung, dass ich dort unten am See oder hinter dem Café mein Zelt aufbauen könnte und beruhigt mich, dass die Hunde auf mich aufpassen werden. Man hilft mir, im Hotel schon früher einzuziehen als eigentlich gebucht, trägt meine Sachen hinein, ich darf kaum mit anfassen. In einem anderen Hotel schenkt man mir eine dritte Nacht kostenlos.

Als meine Brille heruntergefallen und ein Glas zerbrochen ist, bringt mich ein Mann zu einem befreundeten Optiker. Dieser findet für alles eine Lösung – er könne die fertige Brille, deren Reparatur wegen Lieferzeit des Glases etwas dauert, nach Konya zu einem Freund schicken, damit ich derweil schon weiterreisen könne – und lässt seinen Laden wegen mir länger als geplant geöffnet. (Hier bekomme ich übrigens türkischen Kaffee statt Tee:))

An einer Radwegsperre, die für vollbepackte Räder wie meines viel zu eng konzipiert ist, kommen zwei Männer kurzerhand vom Strand herbeigeeilt, um mein Rad über die seitliche Mauer zu heben. Man bietet mir an, mich im Van mitzunehmen (was ich nur nicht will:)), schenkt mir Essen, fragt, was ich brauche, winkt mir zu, schenkt mir Lächeln und Fragen und Blicke und immer wieder das gute Gefühl, willkommen zu sein. So reist es sich in der Türkei ganz wunderbar.

Manchmal nur, manchmal kann man mich nicht einordnen. In einem Land, in dem Frauen viel weniger in der Öffentlichkeit präsent sind als Männer, in welchem diese vor allem in der Rolle als Mutter, Hausfrau oder höchstens noch als Verkäuferin sichtbar werden, da passe ich auf meinem Rad, in meiner Kleidung, mit meinem Unterwegssein nicht ins Bild. Das spüre ich zuweilen direkt, wenn man mich unsicher beäugt und nicht wagt anzusprechen. Ich versuche dann, von mir aus auf die Menschen zuzugehen. Frage irgendetwas, erzähle von meinem Weg, von meiner Route, immer aber auch gleich von meiner Familie, meinen Kindern – damit ich nicht gar zu fremdartig und unnahbar wirke – und dann öffnet sich manchmal ein Gespräch. (Mehr Türkisch würde helfen. Ich versuche jeden Tag, meine Smalltalk-Fähigkeiten auszubauen.).
Ja, ich möchte reden mit den Menschen. Möchte von ihren Sichten, Ideen, Träumen, Sorgen, Ängsten erfahren. Möchte wissen, wie sie ihr Leben leben, was ihnen Vision, Geländer und Abgrund ist, woraus sie ihre Kraft ziehen, welche Wege sie gegangen sind und welche sie vor sich sehen.

Solange ich dies nicht durch Sprache erfahren kann, versuche ich mich im Beobachten. Ich sitze viel auf den Plätzen und Orten am Wegesrand und schaue zu. Versuche in das Leben der Menschen hineinzublicken. Ahne, wieviel mehr das Gemeinsame hier eine Rolle zu spielen scheint als bei uns. Ein viel größerer Teil des Lebens findet nicht in der eigenen Wohnung, im eigenen Haus statt. Schon tagsüber sind in großen wie kleinen Orten Picknickbänke und schattige Rasenflächen von Großfamilien belegt. Hier sitzen also die Frauen mit ihren Kindern, in stets großen Gruppen, während die Teestuben mit wenigen Ausnahmen vorwiegend Männern vorbehalten zu sein scheinen.
Bei Tisch – ich durfte schon dreimal gemeinsam mit Menschen essen (einmal am Boden: ui! – und bitte aufpassen: das Tuch unter dem niedrigen runden Tisch ist eine Art Serviette, auf das man bitte nicht die Füße legt!) – gibt es mehr gemeinsame Platten und Gefäße als individuell gefüllte Teller. Am Freitagabend wird auf dem zentralen Platz der kleinen Stadt ein Film öffentlich vorgeführt, so kann die ganze Stadt zusammen und kostenlos zuschauen.
Als in einem städtischen Kaffee ein Streit ausbricht – ein einziges Mal in zwei Wochen sehe ich eine solche Szene – mischen sich die Umstehenden zwar nicht groß ein, stehen aber rund um den Konflikt, beobachten, kommentieren empathisch, fragen sich gegenseitig nach Details – auch mich (die ich, weil alle es tun, auch wage direkt zuzuschauen – das würde man bei uns ja nie tun), schauen jedenfalls nicht weg, wie es bei uns geschehen würde, und sind vermutlich mit Herz und Neugier nah dabei. Als schließlich ein Polizeiauto anrückt, steigt eine der streitenden Parteien friedlich in dieses ein und wird weggefahren – so einfach.

Noch etwas, was mich hier beeindruckt: Wasser und Brot sind essentiell. Deswegen gibt es selbst in den verlassensten Dörfern und Straßengräben Wasserhähne und -becken, aus denen man wohl bedenkenlos sogar unabgekocht trinken kann. Jedenfalls wird es nie irgendjemandem an Wasser mangeln. (Ich habe irgendwo gelesen, dass Menschen mit Wohlstand verpflichtet sind, solche Wasserstätten zu bauen, wo es noch keine gibt, als ihren Beitrag zum Gemeinwesen.)
In den Städten gibt es Kioske mit äußerst preiswertem „Halk ekmek“ („Volksbrot“) sowie kommunale Restaurants und Cafés mit sehr gemäßigten, gedeckelten Preisen, damit Menschen mit wenig Einkommen an das Nötigste kommen. Weiterhin soll es in Bäckereien die Tradition des „Askida ekmek“ („Hängendes Brot“) geben, das Menschen für andere, bedürftige Menschen kaufen können. Dieses schon bezahlte Brot wird dann im Laden aufgehängt und darf einfach mitgenommen werden. Ich werde die Augen offen halten …

Während ich anfangs noch sehr fragend und unsicher war, welche Route durch die Weiten der Türkei gut wäre – hatte ich doch als einzigen Zielpunkt vor Georgien lediglich Kappadokien auf meiner inneren Wunschlandkarte – bin ich nach diesen ersten Tagen überzeugt, dass es mehr oder weniger egal ist. Es ist überall stimmig. Interessieren mich doch nicht in erster Linie die touristisch angepriesenen und daher vielbesuchten sogenannten Highlights, sondern das hiesige Leben. Den Menschen begegne ich ja überall.
Der Vollständigkeit halber sei hier trotzdem kurz aufgezählt, wo mein Weg mich von Istanbul aus entlanggeführt hat:
Am asiatischen Ufer des Marmarameers mit einer kurzen Fährverbindung nach Yalova, am Iznik-See entlang durch Iznik (welches früher Nicäa hieß und der Ort der gleichnamigen Konzile ist), über Osmaneli nach Eskişehir, welches sich als überraschend bunte, offene, studentische Stadt herausstellte, durch die verlassenen Hochflächen und Felsformationen des Phrygischen Tals mit seinen imposanten Felsformationen, eingegrabene Kapellen, Wohnungen und Höhlen inklusive, bis hierher nach Afyonkarahisar.
(Bilder und Genaueres bei Instagram und Polarsteps.)
Von hier aus werde ich nun weiter Richtung Südost fahren, an einigen Seen vorbei (womöglich erwischen mich die Temperaturen ü35 doch noch, trotz Hochlage), dann nach Konya und über den riesigen Salzsee Tuz Gölü hinein nach Kappadokien, soweit der Plan für die nächsten zwei Wochen. Ich bin gespannt. Auf jeden Fall, das weiß ich jetzt schon, werde ich überall Tee bekommen. Tee wie Türkei.

(PS. Während ich hier im Free-WLAN der Hotellobby sitze und schreibe, stellt ein Angestellter einen Tee vor mich:))

7 Kommentare

  • Sofasophia

    Verrückt. Ich freue mich, dass du das so genießen kannst und du so gut in diesen gesellschaftlichen Kontext passt. (Ich wäre total überfordert.)

    Wie wohl mit allein radelnden Männern umgegangen wird – ähnlich oder anders?
    Triffst du andere Radelnde?

    Hab eine gute Weiterreise!

    • rebisreistrad

      Wie schon bei Polarsteps geschrieben: Männliche Reisende bekommen eher noch mehr Hilfe und Zuwendung, da man ihnen oft nicht skeptisch oder hilflos gegenüber steht. Als Frau in dieser Rolle ist man ein Stück weit Alien. Deshalb versuche ich oft, von mir aus auf die Menschen zuzugehen. (Und manchmal, wenn ich keine Lust dazu habe, bin ich auch froh, nur beäugt und nicht angesprochen zu werden.)
      Was meinst Du damit, dass ich so gut hierherpasse? Und was würde Dich überfordern?

  • Sigrid

    Es ust so spannend, dieses Land, dessen Menschen hier Mut so cueken Vorurteilen behaftet dind durch deine Augen ttu sehen. Und ich gebe zu, dass ich überrascht bin, wie offen sich die Menschen gegenüber einer alleinreisenen Frau zeigen. (Vorurteile!)
    Gute Weiterreise!

  • Gina

    Ach Uta, das liest sich so, so schön und ich radle in Gedanken auch direkt wieder durch die Türkei. Es war eine unvergessliche Zeit.
    Falls du eine Empfehlung für ein Hotel mit extrem tollem Frühstücksbuffet in Kappadokien brauchst, das „Balloon Hotel“ kostete so um die 23 € die Nacht und war sehr nett. Fahrräder müssen draußen bleiben, hat gur geklappt.

    • rebisreistrad

      Hab schonmal für Kappadokien geschaut – ich befürchte nur, das waren bei Euch damals Winterpreise. Für jetzt sieht alles horrend teuer aus.
      Aber ein paar Tage will ich ja eh zelten, vielleicht finde ich auch das rote Sofa von ani.to.everywhere, das klingt faszinierend, ich werde sie wohl mal anschreiben, um den Spot zu finden:)

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