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Nach Armenien – wieder über eine Grenze

20. bis 26. November 24 – Von Tbilisi in Georgien nach Jerewan in Armenien

 

Radreisetag 47: Von Tbilisi nach Marneuli
Es ist der Tag der hässlichen Strecke. Am Abend scrolle ich durch meine Fotos und bin fast so etwas wie fassungslos, dass ich den ganzen Tag quasi nur hässliche Anblicke hatte. Die Landschaft ist flach und profillos geworden. Sollte es Bergketten am Horizont geben, verschwinden diese im schmutziggrauen Dunst, der den Tag einhüllt. Die Herbstfarben der wenigen Bäume am Straßenrand verschmelzen mit dem Beigegrau der trockenen Landschaft zu einem konturlosen Farbbrei. Marode Plattenbauten, Hochspannungsmasten, Industrieruinen, Schutt- und Schrottabladeplätze säumen meinen Tag ebenso wie der schotter-schlagloch-getränkte Straßenrand. Tausend Autos pro Minute pfeifen vorbei, manche im Zentimeterabstand. Sie verfehlen meine hinten ausgehängte Warnwestenstange vermutlich nur um Millimeter. Als ich in einem Bushaltestellenhäuschen eine Essenspause mache – immerhin habe ich dabei den fantastischsten Blick des Tages: ich sehe keine Ruine – umschwirren tausend Fliegen mein Essen.
Tage, die auch zu einer solchen Reise gehören.
Nach nur 40 Kilometern gebe ich auf und suche mir eine Unterkunft. Es wird ein unfreundliches Hotel. Immerhin ist es warm, sauber und billig. Das hellt mich ein bisschen auf.
Mein Spazierweg in die Stadt – Anschauen muss sein – bewirkt dann wieder das Gegenteil. Ofenrauch, Gerümpel, Gehwegmatsch und einsturzgefährdete Schlaglöcher in fahlem Laternendämmer schlagen selbst mir auf die Stimmung, die ich so einiges gewohnt und bereit sowie in der Lage bin, auch den bizarrsten, unbequemsten Umständen noch etwas Spannendes abzugewinnen.
90 Prozent der Läden handeln mit Autoersatzteilen. „Aus Deutschland“ steht auf vielen Werbeschildern. Das Geschäft läuft, alle Werkstätten sind voll, es wird gebaut, geschraubt, aus zwei Autos wird eines gemacht – ich befinde mich offenbar an der Autoresterampe und -aufbereitungsanlage Europas.
Die restlichen 10 Prozent der Geschäfte tragen die Aufschrift „Möbel“, verkaufen aber irgendetwas anderes. In einem Lebensmittelladen sehe ich Tomaten und Gurken. Die Waage ist kaputt. Ich will das Gemüse dennoch kaufen und einen nach oben aufgerundeten, übergroßzügig geschätzten Preis bezahlen. Doch nein: man reißt mir alles aus der Hand, das ginge so nicht. Ohne Waage kein Bon, ohne Bon kein Kauf. Dass ich zu viel bezahlen und ihnen den Rest schenken will – sie schütteln resolut den Kopf. „Sie können das nicht kaufen“, dabei bleibt es. Althergebrachte sowjetische Servicemethoden, ich verlasse den Laden frustriert ohne Gemüse. Was nicht geht, geht eben nicht.
Fast wäre meine Stimmung nun endgültig gekippt. Doch da ist etwas, was mir schon bei der Stadteinfahrt aufgefallen war: Türkische Wörter. Immer mehr. Und Imbisse. Und „Çay evi“. Alles so vertraut. – Aus einer Teestube winken sie mir zu. Als merkten sie, worüber ich gerade nachgrübele. Die Sprache mancher Menschen klingt so, dass ich sie fast verstehe. Aber eben nur fast. Manche Buchstaben in den Wörtern stimmen nicht, manche Wörter klingen türkisch, aber vernuschelt.
Ich brauche eine Weile, bis ich drauf komme: Es sind Aseris. Aserbaidshaner. Ich lese nach: Stimmt. Eine regionale aserbaidshanische Minderheit lebt hier in Südgeorgien.
„Eure Sprachen sind sehr ähnlich“, frage ich einen Mann. Ja, strahlt er, weil ich seine Sprache kenne. Ein bisschen jedenfalls. Manchmal reicht das Lächeln eines einzigen Menschen. – Und so haben der Tag und ich doch noch zueinander gefunden.

Radreisetag 48: Von Marneuli in Georgien nach Negothsi in Armenien
Die Straße ist noch genauso voll und eng wie gestern, doch die Stimmung der Strecke wandelt sich allmählich. Weniger Dunst, mehr Sonne, weniger Hässlichkeit, mehr Herbstfarben. Dazu kommt Wärme: Zum ersten Mal seit September kann ich im T-Shirt fahren. Langärmlig zwar, und Merino, aber: ohne Jacke! Die Menschen am Wegesrand geben ebenfalls Wärme: Hier in dieser aserbaidshanischen Ecke – es gibt Moscheen! – wird plötzlich wieder gewunken, grüßend gehupt und gelächelt. Sogar die Grenzer lassen sich anstecken. Sie schicken mich in der Autoschlange ganz nach vorn, die einen wünschen mir alles Gute für die weitere Fahrt, die nächsten begrüßen mich im neuen Land. Am frühen Nachmittag bin ich in Armenien – mein 26. Land auf Radreisen!
Was für eine Begrüßung hier: Geldabheben und SIM-Kartenkauf gehen schnell und mit viel Erklärung und Hilfe auf Englisch, innerhalb der ersten Stunden werden mir Mandarinen, Granatäpfel, Khakis und Nüsse geschenkt – mein Rad schleppt schwer daran:) – die Landschaft wird bergiger, ein Fluss schlängelt sich hindurch, endlich wieder schöne Anblicke, ich fahre in einen Canyon hinein, den ich bis morgen Abend aufwärts treten werde, und vor allem winken mir immer wieder Menschen vom Straßenrand zu. Hach!
In dieser Stimmung habe ich keine Sorge wegen eines Schlafplatzes, das Land macht spontan den Eindruck, dass ich hier weder verhungern noch sonst irgendwie verloren gehen könnte. Also fahre ich bis in die Dämmerung hinein, um die morgigen über 1000 Höhenmeter etwas zu reduzieren. Als es dunkel wird, finde ich einen Campingplatz. Natürlich ist der längst herbstlich abgeräumt und ungenutzt, aber die Wirtsfamilie wohnt dort, und nach einem Anruf kann ich mich beruhigt zurücklehnen, weil sie bald nach Hause kommen werden. Ich werde in die Arme und für diesen Abend in die Familie aufgenommen
An einem der letzten herbstlich warmen Tage baue ich mein Zelt unter trocknenden Khaki-Früchten auf, während in einer holzbeheizten Hütte schon Tee mit Imbiss vorbereitet wird. Später am Abend gibt es ein Feuer, wir grillen und sitzen zusammen. Mehrmals werden „50 Gramm“ nachgeschenkt. Die Trinksprüche sind eher Reden, mit Tiefe. Und wenn man das Glas nicht leertrinkt, wird bei der nächsten Runde einfach nur ein bisschen aufgefüllt. Man muss sich nicht betrinken, um Teil der Runde sein zu können.
Und wir sprechen. Ich frage viel. Über die armenische Geschichte habe ich in den letzten Tagen einiges gelesen, aber das Geschehene aus dem Munde der Menschen erzählt zu bekommen, berührt und trifft noch viel mehr. Der Genozid ist hier längst keine Vergangenheit. Wieviel sie verloren haben. Was sie hält. Dass sie ohne ihre Kirche wohl kaum noch hier als Armenier zusammenleben würden. Wie ihr Blick auf Russland ist – und doch sind sie so abhängig davon. Wie ihre Familien in die Welt verstreut sind und alle sich selten sehen. Was dieser Ort hier für ein Paradies ist, in dem sie versuchen, für immer ein Zuhause zu finden.
Und doch sind die kleinen Enkel nur zu Besuch hier. In Russland, wo sie leben, sind gerade Herbstferien. In der Schule in Moskau lernen sie nur Russisch. Nein, Armenisch wird dort natürlich nicht gelehrt. Aber immerhin: Es ist in der Familie ihre erste Muttersprache.
Armenien hat sich mir schon an meinem ersten Tag so offen gezeigt: So herzlich. So von Tragik gezeichnet. So warmherzig. So verletzlich.

Radreisetag 49: Von Negothsi nach Wanadsor
Im Zelt zu schlafen ist wunderbar, ich wache glücklich – und immer noch mit Blick auf trocknende Khaki-Früchte – auf. Als ich mir gerade Kaffee kochen will, kommen sie aus der Hütte: Das Frühstück wäre fertig. Und was für eines! Bei Tageslicht sehe ich auch, in welchem Paradies ich hier übernachtet habe. Eine (fast noch) grüne verwilderte Oase inmitten von hohen Bergwänden.
(Übrigens: Mitten im Garten steht ein Totalschaden-Auto. Ich will gerade Mitleid wegen des Unfalls bekommen, als man mich aufklärt: Autoaufbereitung ist der Beruf dieses Mannes. Völlig kaputte Autos aus dem Ausland aufkaufen, sie wieder fahrbar machen. So wie neulich schon die vielen Werkstätten in Marneuli: Hier wird alles weitergefahren, an dem noch vier Räder sind. Gut eigentlich. Nämlich: Wegwerfgesellschaft zu sein, können sich diese Länder hier nicht leisten.)
Irgendwann muss ich los, nicht ohne Nuss- und Tschurtschchela-Geschenk (das sind mit verdicktem Traubensaft überzogene Nüsse). Es wird ein wunderbarer und schwieriger Tag zugleich. Die Sonne scheint, ich kann über weite Strecken des Tages wieder im T-Shirt fahren, und die Bergwelt ist fantastisch, zum Juchzen.
Aber es sind 1000 Höhenmeter, immer talaufwärts. Das wusste ich vorher, hatte es aber dennoch ein wenig unterschätzt. Als noch Gegenwind dazukommt, wird mir klar, dass es mit der Dunkelheit heute knapp wird bzw. nicht zu schaffen ist. Auch wenn ich schnell fahre, ich halte bei winkenden Menschen am Straßenrand kaum an. Ich komme deswegen irgendwie auch nicht dazu zu fragen, warum hier – gerade hier? oder überall in Armenien? – sooo viele Industrieruinen in der Landschaft stehen, es ist gespenstisch. Auch verrottete touristische Infrastruktur gibt es an jeder Ecke.
Meine Entscheidung bis in die Stadt zu fahren ändere ich nicht, die Kälte bleibt erträglich, und ich habe keine Scheu vor den letzten zwei Stunden Dunkelheitsfahrt.
Am Ziel erwartet mich ein wiederum warmherziges Guesthouse, in dem ich – außerhalb jeglicher touristischer Saison – die riesige Wohnung komplett für mich allein habe. Heute bin ich aber tatsächlich körperlich richtig fertig, kann dies alles gar nicht mehr genießen, schaffe es nicht mal mehr zu kochen (Salat und Brot müssen reichen) und falle nur noch ins Bett.

Radreisetag 50: Von Wanadsor nach Dilijan
Beim Aufwachen sind draußen eisige Minusgrade – natürlich, ich habe mich ja wieder auf über 1000 Meter Höhe hochgearbeitet. Ich bleibe daher lange in meiner Unterkunft (mit ihrem riesigen Wohnzimmer, in dem ich aufpassen muss, mich nicht zu verlieren). Als ich bei inzwischen wärmender Sonne abfahren will, rede ich noch eine Weile mit der Wirtsfamilie und bekomme Äpfel geschenkt. (Ohne Geschenk lassen sie einen hier offenbar einfach nicht weiterziehen:))
In der Innenstadt von Wanadsor drehe ich nur eine kurze Runde, sie sieht seltsam strukturiert durchgeplant und damit unwohnlich aus, selbst das Zentrum wirkt wie ein Vorort. Vielleicht übersehe ich etwas, ich werde hier vermutlich auf dem Rückweg nach Georgien noch einmal vorbeikommen, deswegen fahre ich jetzt einfach ab, ohne mich weiter umzusehen.
Denn es geht wieder eine ganze Weile bergauf, ich werde ein bisschen Fahrzeit brauchen. Die Landschaft wirkt zunächst wie die Alpen, jedenfalls suggeriert mir das mein Heimwehblick. Dieser ist heute so stark, dass ich mich einfach irgendwo am Straßenrand niederlasse, um ein wenig und ohne Ablenkung in die Bergferne zu schauen.
Später, als ich oben bin („Pass“ heißt es hier nicht, höchste Straßenstellen sind jedenfalls nie beschriftet oder irgendwie benannt), biege ich eher zufällig von der Hauptstraße ab, auf eine parallele kleinere Straße durch zwei Dörfer. Der Weg wird zwar gravierend schlechter, aber dafür bekomme ich das Erlebnis zweier altrussischer Dörfer, wie ich im Internet erfahre. Weil mir das gesamte Dorfleben so fremd, so wie von einem anderen Planeten vorkommt, drängt es mich nachzulesen: Es sind Siedlungen der sogenannten Molokanen, eine im 18. Jahrhundert von der russischen orthodoxen Kirche abgespaltene religiöse Gruppe, die in Abgeschiedenheit hier lebt, in noch altertümlicheren Dörfern als eh schon, mit der Herstellung von traditionellen Lebensmitteln beschäftigt – am Straßenrand gibt es zahlreiche Verkaufsstände – und mit einem völlig irritierten Blick auf mich beim Durchradeln. Ich werde regelrecht angestarrt. (Ich lese später, dass die Menschen hier bewusst kein Internet benutzen. In einem solch weltfernen Universum muss ich wie ein Ufo daherkommen. Dies empfinden leider auch die Hunde so. Ich habe hier einige sehr unschöne Hundekontakte.)
Weil ich so langsam fahre, viel schaue, alles sehen will, ist es bei der letzten Abfahrt des Tages schon dämmrig und damit a…kalt. Ich will noch runter nach Dilijan in ein Zimmer und friere mir bei den 500 Metern Abfahrt fast die Hände ab. Unten im Supermarkt kaufe ich mein Abendessen – und werde von einem einheimischen Fahrradaktivisten angesprochen, er hätte mich schon gestern und heute ein paarmal auf dem Rad gesehen. Ob ich etwas bräuchte? Zur Sicherheit gibt er mir seine Telefonnummer, falls ich in der Zukunft Hilfe brauche.
Das Wertvollste für den Moment ist sein Rat für morgen: Bloß nicht den Tunnel zu nehmen, sondern die Serpentinenstraße zu fahren. Das wäre zwar mehr Arbeit, aber die würde sich lohnen … (Ja, ich werde es morgen so machen. Und ja: Es lohnt sich!)
Im warmherzigen Guesthouse sitze ich im letzten Dämmerungsschimmer auf meiner Terrasse, wärme mich auf, koche und freue mich auf den Sewansee morgen.

Radreisetag 51: Von Dilijan nach Sewan
Sewan liegt fast 1000 Meter höher als Dilijan, es ist also ein harter Radarbeitstag. Zum Glück geht es zwischendurch nicht noch bergab, man gewöhnt sich also irgendwie an die fast konstante 5-7% Steigung. Und zum Glück ist die Straße breit genug, so dass mich die Autos nicht an den Rand drängen. Ohnehin ist nicht viel los auf der Straße, trotz Wochenende und Sonne, wahrscheinlich ist es zu kalt. Dennoch ist der Straßenrand voll mit Maisimbissständen, in denen Verkäufer ihr Glück versuchen und dabei nicht aufgeben.
Ich fahre meditativ vor mich hin, ab und zu mit Blick auf den Höhenmesser, ob es vorangeht. Ja, geht es. Das zeigt auch die Landschaft, die immer spärlicher werdenden Bäume, die immer häufigeren Aussichten.
Als ich kurz vor dem Abzweig zur mir am Vortag empfohlenen Pass-Straße bin, mache ich eine Pause am Straßenrand, dann folgen die letzten 300 Höhenmeter. Tunnel sei Dank ist die Serpentinen-Straße komplett leer, mir kommen in der ganzen Zeit vielleicht drei Autos entgegen. Wie gut diese Empfehlung war – was für traumhafte Blicke, und diese Einsamkeit!
Ganz oben liegt nochmals ein russisches Dorf. Wiederum gehen mich aggressive Hunde an. Bei einem funktioniert nicht mal meine Taktik des Anhaltens, er kommt ungewöhnlich nahe, springt fast an meinen Arm, ich spritze nach Kräften aus meiner Wasserflasche und schreie ihn an, während der zugehörige junge Mann eher gelassen daneben steht und dem Hund leise Vorschläge macht, vielleicht von mir abzulassen – na danke auch. (Dies war bisher mit Abstand der größte Hundeschreck dieser Reise. Als kurz darauf wieder drei Hunde hinter mir her jagen, habe ich wohl noch so viel Adrenalin und Entschlossenheit in der Stimme, dass diese nach nur einem Brüller von mir ablassen und mit eingezogenem Schwanz in gebührendem Abstand hinter mir her schleichen. Na bitte, geht doch:))
Am Ortsausgang des Dorfes befindet sich der höchste Punkt dieses Passes, zweitausendeinhundertirgendwas Meter (wie immer ohne Schild), und von dort oben sehe ich erstmals den Sewansee. Wow!
Beim Hinunterrollen wird mir eiskalt, die letzten zehn Kilometer auf der Autobahn sind zudem anstrengend voll. Ich frage mich, wie die unzähligen Sanddornsaftverkäufer am Straßenrand Kälte und Lärm aushalten, und ob sie je etwas verkaufen.
Und dann komme ich in einem kleinen Hotel unter. In den nächsten Tagen soll es schneien, es kann sein, dass ich hier einen Schnee-Einbruch auszusitzen habe. Ich hetze mich also nicht, mir am Abend noch die Stadt oder das Kloster auf der Halbinsel anzusehen – das kann ich alles morgen machen. Heute nur noch schnell etwas essen, und dann schlafen.

Ein Tag in Sewan
Es schneit doch nicht, aber es ist kalt und erstmals seit langem bewölkt. Über die Bergflanken längs des Sees wälzen sich im Laufe des Tages immer mehr dichte weiße Wolken. Wetterumbruch – das stimmt schon. Ab und zu fliegen tatsächlich kleine Schneeflöckchen in der kalten Luft, aber weit entfernt vom prognostizierten Schnee-Einbruch.
So radle ich gemütlich zum Kloster auf die Halbinsel und setze mich dort zunächst ein wenig ans See-Ufer. Es sind kaum Menschen da. Verwaiste Ferienanlagen in der Nichtsaison sehen immer sehr traurig aus. Oben am Kloster sammeln sich einige wenige touristisch unterwegs Seiende, so wie ich ja auch, und noch ein paar mehr Menschen, die Dinge verkaufen wollen. Souvenirs, Säfte, Selfies mit Tauben … und das alles in gewittrig-düsterer, fast mystischer Stimmung.
Anschließend fahre ich in die Stadt. Ich weiß nicht, was ich erwartet habe, aber die Stadt unterbietet alles. Winzig, dörflich wirkend, am Ortseingang grasen Pferde, alles wirkt weit weg von den frequentierten Wegen der Zivilisation. Kaum, dass ich einen Supermarkt finde. Von einem Imbiss keine Spur. Also kaufe ich mir nur etwas zum Kaffeetrinken, radle zurück zum See und setze mich dort mit dem Campingkocher hin. Ein paar kleine Sonnenstrahlen machen es erträglich von der Temperatur und etwas heller von der Stimmung her.
Unterwegs löse ich noch ein Rätsel: Schon die ganze Zeit hatte ich mich gefragt, warum eigentlich bei vielen Wohnblocks jede Wohnung eine andere Fassade hat. Ob die Wohnungen als Eigentum einzeln verkauft werden und man sich dann das Outfit des eigenen Fensters aussuchen kann? Schwer vorzustellen. Ein architektonisches Konzept scheint auch nicht dahinter zu stecken. – Als ich schon das Internet befragen will, komme ich selbst darauf: Dies sind alles vorgebaute Wände. Eigentlich hatte jede Wohnung einen Balkon. Ab und zu sieht man diese Balkons wirklich noch, ohne vorgebaute Fassade. Aber in der Regel haben fast alle ihren Balkon verkleidet und auf diese Weise ihren Wohnraum vergrößert, auch wenn es nur um fünf Quadratmeter ist. (Erstaunlich, dass das statisch stabil ist. – Vielleicht ist es das ja nicht?!)
Am Abend beginnt es zu schneien. Morgen soll es mehr Schnee geben und kälter werden. – Ich entscheide, mich früh auf den Weg abwärts nach Jerewan zu machen. Hier in diese Landschaften werde ich irgendwann wiederkommen. Wenn nicht gerade Winter ist.

Radreisetag 52: Von Sewan nach Jerewan
Es ist ein langweiliger Fahrtag. Würde ich nicht vor Schnee und Regen davonfahren, hätte ich diese Strecke sicherlich nie gewählt. Oder wäre zumindest auf kleineren Straßen im Hinterland gefahren, parallel zur autobahnartigen. So aber werden es 70 km Schnellstraße.
Ich fahre immer gerade so vor dem Regen her, in der Ferne liegen Berge und Dörfer in trübem Licht. Je näher ich Jerewan komme, umso besser scheinen mir die Aussichten, dem Regen zu entkommen. Also gönne ich mir ab und zu kleine Pausen, an einem der zahlreichen und übermächtigen Denkmäler zum Beispiel, oder um die plötzlich steppenartig karg vor mir liegende Landschaft zu bestaunen.
Und schon streckt Jerewan seine Arme aus – mit sich über die Hügel ziehenden Neubaublöcken, mit Schnellstraßen und mit schrecklichstem Verkehr, bis in die Innenstadt hinein, wo ich erste Runden auf riesigen Plätzen mit monumentaler Bebauung drehe, weil ich mein Zimmer erst ein wenig suchen muss. Zudem funktioniert heute meine E-Simkarte nicht, warum auch immer, deswegen ist die Verabredung mit den Vermietern doppelt schwierig. Gerade als ich dies geschafft habe – aus dem Free-Wifi eines Ladens heraus telefoniert, Wohnung aufgespürt, Schlüssel bekommen, Rad und Sachen hineingetragen – fängt es an zu schütten. Punktlandung.
Später wage ich mich doch noch hinaus, ich bin einfach zu neugierig auf diese Stadt. Es ist ja immer ein wenig Zufall, was man in den ersten Stunden an einem neuen Ort sieht. Dass das Straßenbild vor allem von jungen Menschen geprägt wird, die miteinander den Abend verbringen, hätte man aber beim besten Willen nicht übersehen können. Dazu gehören viele Cafés und Bars in europäischem Stil und in mindestens jeder dritten Hand ein Coffee oder Milchshake to go. Desweiteren scheint Jerewan die Hauptstadt der Weihnachtsdeko, der Trinkwasserspender und der stillgelegten Brunnen zu sein.
Soweit meine ersten flüchtigen Eindrücke von dieser Stadt. Und während ich in ihr umherlaufe, versuche ich mich an Sender-Jerewan-Witze zu erinnern. Gar nicht so einfach – ganz schön lange her.

2 Kommentare

    • rebisreistrad

      Ja, auch im Winter war es dort schön:)
      Nach Armenien war ich wieder in Georgien, dann über Weihnachten zu Hause, und danach im Iran, in Turkmenistan, Usbekistan und bin jetzt in Tadschikistan. In den nächsten Tagen fahre ich hoch in den Pamir, auf bis zu 4000 Meter hoch.
      Liebe Grüße!

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