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Von Wegen und Schritten hier und da

Ende September:
Meine Reise macht eine Pause.

Osten ohne Plan. Der Name ist Programm, mehr, als ich mir das vor wenigen Wochen noch vorgestellt hatte. „Wenn du Gott zum Lachen bringen willst, mache einen Plan“, sagte mir eine Freundin in den letzten Tagen am Telefon. So ist es wohl.
Im Moment wäre ich schon in Georgien. Oder eigentlich noch nicht, denn von Kappadokien aus wäre ich einen weiten Bogen durch den Süden des Landes gefahren, hätte Antep, Urfa und Mardin gesehen, würde jetzt gerade auf Erzurum zurollen. Die Bergwelten der letzten Tage wären gar nicht meine Strecke gewesen. Seit Kappadokien aber weiß ich, dass ich nach Hause kommen muss und will, hierhin, wo ich gebraucht werde und wo mein Platz ist. Nun ist es so weit.
Ich fahre von Erzurum mit dem Bus nach Ankara. Ohne Probleme findet mein Rad einen bequemen Stehplatz im Gepäckabteil des extrahohen Busses. Oben im Bus ist es in den 2+1-Bussen eh äußerst komfortabel zum Sitzen und Schlafen, zumal wenn der Bus leer ist. Rad und Gepäck finden in Ankara bei liebsten Menschen ein Dach (den Eltern einer Kommilitonin meines Sohnes). Ich selbst fliege nach einer Nacht Ausschlafen und einem gemeinsamen Tag mit einer Riesentüte voll geschenktem Baklava, Tee, Lokum und Kaffee nach Hause.
Nun sitze ich hier. Versuche anzukommen, bin im Emotionenchaos. Irgendwann werde ich per Rad weiterreisen. Ich weiß noch nicht, wann, wie und wohin. Im Moment ist die Lebensreise, auf der wir gemeinsam unterwegs sind, essentieller.

 

Anfang Oktober:
Ich sitze also hier.

Ja, ich wollte und will es so, es fühlt sich richtig und stimmig an. Ich hatte keine Wahl, konnte nicht anders entscheiden. Krankheit und Tod fragen nicht nach unseren Plänen, Familie ist Familie ist Familie – und das sind nicht nur Worte.
Gleichzeitig möchte ich dort sein, auf dem Rad. Zwei unvereinbare Orte, zwei unvereinbare Reisen zur gleichen Zeit. Die eine so essentiell wie die andere: meine Langzeit(rad)reise als Lebenstraum, und meine Familienaufgabe.
Warum, verdammt, knallt mir das Leben diese zeitliche Kollision vor die Füße? Warum kommt diese Krankheit ausgerechnet jetzt, und nicht in einem der vergangenen oder künftigen Jahre? Nie hätte es sich unfairer angefühlt als gerade in diesen Monaten. – So trotzt das kleine Kind in mir. Es ist im Opfergefühl, weint verloren vor sich hin, ausgeliefert an die Situation. In Selbstmitleid und Lethargie starrt es die Wand an.
Die Große in mir fühlt sich ebenfalls krank. Der Tinnitus begrüßt mich wieder, Schlaf findet sich nur wenig, meine innere Helligkeit hat sich in unzugängliche Ecken meines Ichs zurückgezogen. Die Ziellosigkeit dieser Tage bringt mich an meine Grenzen. Im Äußeren funktioniere ich gut, wie immer, ich organisiere und plane und kommuniziere und tue, was getan werden muss. Und doch. Kopf, Einsicht und Ratio können meiner Stimmung nicht aufhelfen. Und so sitze ich hier.
Meine Gedanken schweifen in diesen Tagen oft in den Osten. Wo ich jetzt wohl wäre. Bei Instagram und Polarsteps verfolge ich die Reisenden, mit denen ich „gleichauf“ lag, die nun ungefähr meine Wege fahren. Oft kommen mir die Tränen. Ich bin voll von Neid und immer wieder sehr traurig, nicht auch dort zu sein.
Wäre ich aber dort geblieben, wäre ich voll von Tränen, nicht hier zu sein, bin ich mir sicher. Das leichte Heimwehziehen, welches man wohl immer spürt, wenn man nahe Menschen für längere Zeit verlässt, hätte sich in den jetzigen Tagen zu einem bohrenden Fehl-am-Platz-Gefühl ausgewachsen. Ich konnte gar nicht dort bleiben, soviel ist mir klar.
Eine echte Patt-Situation. Beides falsch, egal wie ich mich entscheide. Falsch oder falsch. — Falsch oder falsch?, zergrübele ich meine Situation, das stimmt doch nicht?! Lässt sich dies nicht irgendwie verwandeln? — Kann ich nicht beide Reisen verschmelzen lassen, so dass die eine durch die andere bereichert wird, die hiesigen Wegabschnitte mich etwas für die dortigen lehren und umgekehrt? So dass beides zusammen mein Unterwegssein ausmacht?

 

Mitte Oktober:
Ich sitze hier, immer noch.

Gedanken und Emotionen kreisen. – Was eigentlich suche ich denn auf meiner Langzeitradreise? Warum reise ich? – Ein so vielfältiges Gemisch aus Gründen kann ich schwer hier in nur wenige Stichpunkte komprimieren. Und doch, ich versuche es.
Dankbarkeit will als erstes genannt sein. Dankbarkeit für das bloße, einfache Leben. Für elementare Dinge, die uns in unserem privilegierten Leben allzu selten so klar in ihrer Bedeutung vor Augen stehen, weil sie selbstverständlich scheinen. Auf meinen Reisen erlebe ich den Wert von Wasser, Wärme, Brot und der Verbindungen zwischen uns Menschen. Schlafen auf einer einfachen Matte, eine Dusche und simples Gaskocheressen sind Luxus. Tiefe Dankbarkeit empfinde ich auch für die Schönheit der Welt, für die Landschaften, das Blühende, das Bizarre, das außergewöhnlich Geformte, das Besondere, an dem mein Weg vorbeizieht – dass ich all das sehen und durchleben darf!
Mich selbst zu spüren, meine inneren Räume zu ertasten, mich mit meinen mentalen und körperlichen Grenzen zu konfrontieren, mit Schwachheit und Angstgefühlen, das ist ein anderer zentraler Beweggrund meiner Reisen. Schritte durchzuziehen, auch wenn sie schwer sind. Nicht immer den einfachsten Weg zu wählen. Dinge zu versuchen, die ich noch nie versucht habe. Sachen über mich zu lernen, die ich noch nicht wusste. Um letztlich Vertrauen in mich zu gewinnen, in meine mentale und physische Kraft.
Meine Reisen schenken mir Perspektivwechsel, neue Blicke auf den eigenen Weg. Das wirklich Wichtige wird mir mit jeder Reiseetappe bewusster. Aus einer Art Außenperspektive schaue ich meine bisherigen Lebensschritte an, reflektiere über sie, stelle manche von ihnen in Frage. Ja, auch das. Ich bin auf der Suche nach meinem Platz und meiner Aufgabe, immer wieder.
Und Begegnung natürlich suche ich. Begegnung mit anderen Kulturen, mit anderen Menschen, mit anderen Welten. Immer will ich wissen, wie es hinter der nächsten Ecke aussieht, wie die Menschen hier und da leben, welche Verbindungen wir haben, was mein eigenes Leben mit all den unzähligen Leben auf dem Erdball verknüpft. Ich giere nach Dialog, nach gegenseitigem Zuhören und Verstehen, nach dem Blick auf andere Perspektiven und Meinungen. Und bin dankbar für jede Mauer in (zum Beispiel meinem) Kopf, die sich durch Begegnung einreißen lässt.
All das.

Ob ich auch etwas Positives aus der Zeit hier ziehen könne, fragen mich Freunde in diesen Tagen. Spontan sage ich nein. Doch schon drei Minuten später ist mir klar: Doch. Es hat Gutes, was mir hier zu Hause geschieht.
Erlebe ich doch Ähnliches wie auf meinen Radreisen. Ich werde Kraft und neue Perspektiven daraus gewinnen, für diese und künftige Reisen, mit und ohne Rad. Mir wird klar, dass sich die beiden Reiseformen gar nicht so unähnlich sind.
Die Kraft der Dankbarkeit für das Elementare entfaltet sich in unserer familiären Grenzsituation möglicherweise mehr als auf jeder meiner bisherigen Reisen. Wir erfahren uns in seltener Stärke, wir lernen uns selbst und der Energie unserer nahen Beziehungen zu vertrauen, wir reden und weinen und sind mutig im Aufeinanderzugehen. Wir begegnen einander in neuer Tiefe, sind wir doch mit unbekannten Fragen konfrontiert.
Unsere Perspektiven wandeln sich, und wie. Klarheit entsteht. Möglicherweise liegt das Gerüst unseres Lebens viel offener vor uns als jemals bisher. – Wir müssen nach dem Ende dieser Reise – ich muss nach dem Ende dieses Sabbatjahres – unsere alten Leben nicht unverändert wieder aufnehmen. Wir dürfen und müssen und werden Dinge ändern. Mir steht deutlicher als jemals vor Augen, was ich brauche und suche. Alles, was nicht essentiell zu mir gehört, sollte ich von mir werfen. Was das konkret bedeutet, wird sich später im Gehen zeigen. Das ist fernere Zukunft.
Zunächst steht die nähere an, die nächsten Monate. Mir wird klar: Ich bin hier zu Hause unterwegs, anders als mit dem Rad, und doch ähnlich.
Mein Kopf beginnt dies zu verstehen. Bis es allerdings in meinem Emotionensystem angekommen sein wird, dauert es noch eine Zeit.

Vor meiner Abreise, als ich im Sommer allmählich vom Alltag und den mich umgebenden Menschen Abschied nahm und innerlich immer mehr in die Reisevorfreude eintrat, war mir die Fragilität des Konstrukts Langzeitreise durchaus bewusst. War doch schon in den Monaten zuvor eine Kette an Krankheiten über meine nächste Familie hereingebrochen. Wie ein Zeichen, um mir klarzumachen, dass man niemals wissen kann, was in einem solch langen Zeitraum alles geschehen kann. Auch mir selbst letztlich ja.
Natürlich weiß man das vom Kopf her immer schon. Das Ausrufezeichen bekommt aber noch einmal eine ganz andere Dimension, wenn konkrete Schicksalsschläge in die Nähe rücken. – Ich habe dies sehr wohl verstanden. Dachte ich damals. Sagte ich doch mit Worten wenigstens, dass mir klargeworden sei, dass ich von den 13 Monaten freier Zeit mit einiger Wahrscheinlichkeit nicht alle auf dem Rad werde verbringen können. Und dass ich in mir den Schalter umgelegt habe von „Ich trauere um jeden Monat, den ich nicht auf dem Rad verbringen kann.“ zu „Ich feiere jeden Monat, den ich auf dem Rad verbringe.“ Dass ich mein Glück also nicht an dem festmachen werde, was noch fehlt, sondern an dem, was ich schon habe. Weg von „alles bekommen, was ich will“ hin zu „alles wollen, was ich habe“.
Dass diese Worte so bald schon einer Prüfung auf Echtheit unterzogen werden, konnte ich im Juli nicht ahnen. Nun ist die Zeit gekommen. Wusste ich, was ich da aussprach?
Es ist weit schwerer, als ich damals ahnte. Der Schalter steht wohl noch irgendwo in der Mitte. In harter innerer Arbeit bin ich dabei, den Wechsel von Trauern zu Feiern zu erlernen. – Wenn ich meine eigenen Texte aus den bisherigen Radreisetagen lese, bin ich überwältigt, wie viel ich schon erleben durfte, wie viel es da schon zu feiern gibt. Und dann wieder erfasst mich Traurigkeit, dass ich hier zu Hause sitze.
Meine Reise wird weitergehen. Trauern und Feiern. Planen und Verwerfen. Hoffen und Bangen. Jubeln und Weinen. Tägliches Ringen, zwischen all dem die Waage zu finden.

 

Ende Oktober:
Es geht tatsächlich weiter. Meine Radreise darf eine Fortsetzung finden.

Ich kaufe ein Ticket nach Ankara, kann es noch kaum glauben, bin unerwartet schnell wieder im türkischen Leben angekommen und feiere nun wirklich. Nicht nur den türkischen Nationalfeiertag, der just am Tag meiner Ankunft begangen wird. Sondern vor allem, dass ich wieder hier sein darf. Wie gut es das Leben mit mir meint.
Ich bringe Geschenke mit, aus den Wochen zu Hause in mein neues Radreiseleben. Jeder Pedaltritt, jeder Kilometer, jedes Erlebnis am Wegesrand kommt mit größerer Intensität daher als vorher. Inneres wie äußeres Erleben sind dicht wie selten. So als wollte ich jeden Tag und jeden Meter tiefer auskosten, jede Sekunde meines neuen Unterwegsseins aufsaugen. Ich schwebe, ich fliege, ich glaube zu träumen und bin glücklich, egal ob ich mit Frost, Winterwinden, hohen Pässen, erstem Schnee oder eiskalten Händen und Zimmern ringe. So tief glücklich, wie ich es vor der Unterbrechung nur in wenigen Momenten war.
In dieser Tiefe hat nun sowohl mein Zuhause seinen Raum als auch die Ungewissheit, wie lange ich diesmal werde hierbleiben können. Genau genommen können wir ja nie wissen, was morgen geschieht. Wie klar mir dies hier mit jedem Pedaltritt vor Augen steht. So lange ich darf, fahre ich. Durch die Welt und durch mein Inneres, in Dankbarkeit.
Offenbar habe ich einen deutlichen Fingerzeig bekommen: Schätze es wert. Alles. Jeden Moment Deines Lebens. Alles, was Du hast.

6 Kommentare

  • Ulli

    Das Leben so anzunehmen, wie es sich gerade zeigt und dabei noch Dankbarkeit zu entwickeln gehört schon zu den höheren Übungen … du hast sie bis hierher gemeistert und davor ziehe ich meinen Hut.
    Herzlichst, Ulli

    • rebisreistrad

      Danke … und dann habe ich wieder den Eindruck, dass dieses „Meistern“ immer nur temporär ist. Die nächste Herausforderung kommt bestimmt, und wie so oft werde ich mich dann vielleicht wieder wie eine Anfängerin fühlen …

      • Ulli

        Das stimmt natürlich und trotzdem spielen ja dann die zuvor gemachten Erfahrungen hinein, mensch steht ja nie an der selben Stelle in der Spirale der Entwicklung …

    • Sigrid

      Danke, dass du deine Gedanken mit uns teilst. Ich kann so viel für mein eigenes Leben daraus mitnehmen. Ich musste zwar im Februar diesen Jahres nicht eine Radfernreise unterbrechen, aber unser Familenleben wurde durch eine Not-OP meiner Schwiegermutter und ihre Folgen auch gehörig auf den Kopf gestellt.
      „Alles wollen, was ich habe“ ist eine weise Erkenntnis.

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