Vom Marmarameer ins Unterwegssein
6. bis 12. August 24 – Von Istanbul nach Eskişehir in Zentralanatolien
(Täglich berichte ich bei Instagram und Polarsteps über meinen Tag. Nicht ganz so regelmäßig schaffe ich es im Moment, hier weitere, darüber hinausgehende Texte zu schreiben, obwohl es genug zu erzählen und reflektieren gäbe. Daher werde ich meine Tagesberichte nun auch hier einstellen, in Reiseabschnitte zusammengefasst. Die zugehörigen Bilder allerdings, die schaffe ich derzeit noch nicht hochzuladen. Vielleicht braucht es dazu eine längere Radfahrpause – irgendwann im Winter.)
Radreisetag 1: Von Istanbul nach Yalova
Es wäre ja auch zu seltsam gewesen, wenn ich an meinem ersten Fahrtag mit alten Traditionen brechen und frühzeitig loskommen würde. In so einem Hotel findet sich immer jemand zum Reden, ich werde noch mehrmals angesprochen, und dann rollt mein schweres Rad endlich Richtung Asien. Richtung Fähre erstmal, mit der es bequem und klimatisiert für 20 TL (57 Cent) über den Bosporus nach Kadaköy geht. Von dort immer die Küste entlang Richtung Süden bzw. Südosten, bis an die Grenzen der Stadt. Bis dahin aber ist es weit.
Phase 1: Keiner meiner schlimmsten Istanbul-Radfahr-Alpträume tritt ein – der Uferweg ist als Rad- und Flanierweg ausgebaut, Grünanlagen mit riesigen Rudeln Picknickbänken, Strandabschnitte, alle paarhundert Meter ein Kiosk-Restaurant (und öffentliche Toiletten, wo ein letztes Mal meine Istanbulkart zum Einsatz kommt: ich lerne erst hier, dass es sich also um eine kombinierte Verkehrsmittel-Toilettennutzungskarte handelt;-)) Nach 20 Kilometern schafft es das permanente Kioskangebot doch noch, mich zu überzeugen. Der Meerblick ist großartig. (Hier liegen hunderte Schiffe vor Anker, eine riesige Warteschlange für die Bosporus-Durchfahrt.)
Freundinnen und Freunden des beschaulichen naturnahen Radfahrens empfehle ich übrigens von hier die Fähre nach Yalova zu nehmen. Denn …
Phase 2: Kurz vor Tuzla endet das Paradies. Von da ab kommt doch noch das erwartete Istanbul-Feeling auf. Autobahnähnliche Straßen, nur teilweise mit Seitenstreifen, rasende Autoscharen, ich immer ein wenig verloren mittendrin, hin und wieder muss ich eine solche Schnellstraße queren, das Meer ist weit entfernt, ich kämpfe mich durch. Natürlich wird es jetzt auch heiß und staubig, von Fahrfreude kann keine Rede mehr sein.
Phase 3: Ich darf von der Autobahn abbiegen, in eine letzte Ortschaft hinein, Gebze. Was mich erst froh stimmt, wird bald zu meinem kleinen Fahrt-Inferno. Es geht nämlich steilst auf und ab. Mein Navi zeigt mir einen Weg durch die Vorstadtstraßen, der von einem Mann am Straßenrand argwöhnisch betrachtet wird – da hinten wäre es besser (er weist in Richtung Autobahn). Naja, sage ich, nicht für Fahrräder. Doch, für Fahrräder, sagt er. Ich glaube ihm nicht. – Ob sein Weg besser gewesen wäre, werde ich nie herausfinden. Meiner jedenfalls ist schrecklich. Sooo steil, dass ich selbst beim Schieben kaum hochkomme. Die Füße rutschen in den Schuhen, die Schuhe rutschen auf dem Schotter, die Hände verkrampfen sich beim permanenten Bremsen, während ich Luft hole für den nächsten Schiebeabschnitt, ich wähle Serpentinen, komme nur meterweise hoch, überlege schon das Gepäck abzuschnallen und alles einzeln hochzutragen …
Doch irgendwann bin ich oben, sofort ist alles wieder wunderbar. Blick auf den Marmara-Meer-Zipfel, Hinunterrollen, Fähre. Wieder 20 TL, und eine (einzige) Bank auf dem Autodeck: ich schlafe umgehend ein:)
Auf der anderen Seite erwartet mich schon wieder Autobahn, staubig und laut wie vorher, doch diesmal ohne Verpflegungs-Infrastruktur. Mein Wasser ist bis auf den letzten Tropfen alle. Erst nach vielen Kilometern ein Restaurant am Wegesrand – ich brauche Wasser, koste es was es wolle. (Das Restaurant sieht so aus, als würde die Flasche Wasser eine Million Lira kosten. Tut sie aber nicht. Man verkauft sie mir für 20 TL – immer noch nur 57 Cent. Wahrscheinlich sah ich aus, als brauchte ich es dringend:))
Ein Dutzend Kilometer weiter biege ich wieder ab, in eine kleine Stadt und zu einem letzten Stück Strandweg. An einer Motorrad-Zickzackbarriere, bei der auch Räder nicht hindurchpassen, schnappen sich zwei Männer kurzerhand mein Rad und heben es drüber:)
Und dann bin ich in Yalova, wo mich ein lieber Be-Welcome-Host erwartet. (Ein Netzwerk wie Warmshowers, nur nicht notwendigerweise für Radreisende.) Ich bekomme Platz für mich und mein Radl, genieße eine Dusche, wir essen und reden und sitzen bei Wasser und Tee, bis es fast schon zu spät ist für einen Spaziergang durch den kleinen Ort. Zwar fallen mir beim Laufen die Augen zu, aber ich genieße den Abend auf den prallgefüllten Straßen und Plätzen. Der gesamte Ort scheint draußen versammelt.
Am Wasser trinken wir einen weiteren Tee, am Horizont sieht man die Lichter von Istanbul – man hätte auch von dort mit der Fähre herfahren können – und zu Hause kippe ich nur noch ins Bett.
Radreisetag 2: Von Yalova nach Sölöz
Mein Gastgeber Deniz tut auch am Morgen alles dafür, dass ich eigentlich gar nicht weiterreisen möchte. Als ich von dem vielen aufgetischten Essen nur einen Bruchteil verzehren kann, möchte er mir den Rest am liebsten einpacken. Den ganzen Morgen lang versucht er weitere Dinge zu finden, mit denen er mir auf meiner Reise noch helfen könne. Ob ich ein Erste-Hilfe-Set habe. Klar. Eine Warnweste? Schreibsachen? Reparaturzoix? Nähnadeln? (Ich bin kurz davor, irgendetwas anzunehmen, damit es sich für ihn besser anfühlt …)
Letztlich laufen wir noch gemeinsam durch die Stadt, um in einem Radladen ein Tool zu finden: für die einzige Schraube am Rad, die ich nicht mit meinem Werkzeug fixieren kann. Genau die hat sich gelockert (was nicht weiter schlimm ist, aber ich bin beim Fahren sehr klappergeräuschempfindlich:))
Gegen Mittag verabschieden wir uns, und ich breche aus der inzwischen chaotisch-vollen Stadt auf. Auf der Schnellstraße, die ich wähle (Höhenmeter- und Steilstückenvermeidung) ist es nicht weniger voll. Ich kämpfe mich nach oben: Es geht über einen 400-Meter-„Pass“, und ich bin so überhaupt nicht in Form. (So wenig wie in diesem Jahr bin ich noch nie Fahrrad gefahren.) Macht aber nichts, hab ja Zeit, und Bergfahren ist eh mehr Kopf- als Beinsache. Mir geht es also gut, mit jedem Meter mehr.
Oben eine semigemütliche Tankstellenpause (Schatten!), und dann rase ich die gleichen Höhenmeter wieder nach unten. Dort liegt der Iznik-See, an dem ich übernachten möchte. Ich hatte wohl eine baggerseeartige Größe erwartet, jedenfalls bin ich arg verblüfft, als sich plötzlich ein Meer von der Größe eines kleinen Bodensees vor mir ausbreitet. (Klar, auf der Türkeikarte sieht wohl jeder See klein aus.)
Ich kaufe ein, vor allem Wasser, fahre ans Ufer, weiß sofort, dass es hier wunderbare Plätze gibt und finde alsbald einen. Während ich durch Olivenhaine Richtung Ufer schiebe, winken mir plötzlich Menschen zu, die hier leben. In einer Ansammlung von Bungalows, so könnte man es am ehesten nennen. Und ja, ich solle mein Zelt da unten am Ufer aufschlagen. Sie helfen mir mein Rad durch den Sand zu schieben, ich finde mich in einem Sammelsurium alter Gegenstände wieder, eine Sitzgruppe aus alten Sesseln und Automöbeln gibt es auch, und der Rest des Abends ist Sitzen, Kochen, Essen, Schauen, Träumen und Lesen.
Radreisetag 3: Von Sölöz nach Osmaneli
Noch weniger als sonst eh schon zieht es mich am Morgen aufs Rad, wenn ich keine richtige Zeit- und Streckenplanung habe. Auf Sommerreisen hatte ich immer ein Ziel, das ich nach vier Wochen erreicht haben wollte. Jetzt weiß ich nur: wenn die 90 Tage Türkeivisum um sind, will ich in Georgien sein. Das ist einerseits ein sehr freies Gefühl, andererseits brauche ich wohl doch eine kleine Zwischenstrukturierung, merke ich. Der Vormittag vergeht mit gemächlichem Aufbruch von meinem idyllischen Ort, einer traumhaften Seeuferstraße mit Zweitfrühstücksplatz und Überlegungen zum Wohin und Wieschnell. Kurzerhand buche ich mir für Sonntag ein Hostel in Eskişehir, als Zwischenziel (und Ort zum Duschen und Waschen und Ausruhen).
Für heute weiß ich noch nicht, wo ich bleiben werde, aber ich bin da mittlerweile absolut gelassen. Zunächst mal erreiche ich am Nachmittag Iznik, was früher Nicäa hieß und weswegen ich mich also über seine Konzile belese. Ansonsten ist die touristische Atmosphäre dort eher unsympathisch, und mich zieht es bald weiter.
Von jetzt ab geht es viel bergauf. Mein Abendanstieg auf zunächst großer Straße mit breitem Seitenstreifen, dann schmalerer Schnellstraße (anstrengend) und dann einem kleinen einsamen Sträßlein mit Blick auf faszinierende Felsformationen ist begleitet von Wasserkäufen (unter 6 Liter fühlt sich eine Wildzeltnacht für mich nicht sicher an) und lauter Menschen am Wegesrand, die mich ansprechen, mir Essen schenken, nachfragen, und – das führt letztlich zu einer etwas bizarren Übernachtungssituation – mir Tipps zur Zeltplatzsuche geben. Denn: Ich glaube, sie wollen alle so sehr helfen, dass sie lieber irgendetwas sagen als mich meinem Schicksal zu überlassen. Der Tipp lautet also: in Osmaneli nahe der Polizeistation sei ein sehr gemütliches Café, und dort könne man zelten. Ich glaube das, ergoogele die Adresse und fahre in die kleine Stadt.
Von „hier kann man zelten“ wissen die dort aber nichts. Ein Mann bemüht sich wiederum total lieb, eine Lösung für mich zu finden. Als ich das Stichwort „am Fluss“ in den Raum werfe, läuft er mit mir zu selbigem und weist auf ein anderes Café in der Ferne: die dort würden Camping anbieten. Ihr ahnt es schon: Auch diese Inhaber wissen davon nichts. Aber sie zeigen mir auf GoogleMaps einige Plätze, wo ich wohl schlafen könnte. Nicht ohne Angst um mich zu äußern – ob ich denn keine hätte? Nein, habe ich nicht. Also fahre ich zu den städtischen Sportanlagen, spähe einen blickgeschützten Platz unter der Tribüne aus und muss nun nur noch abwarten, bis das rege Sport- und Parkleben vorbei ist, damit ich schlafen kann. Ich sitze herum, esse, bekomme Tee geschenkt, warte so …. und werde letztlich eher müde als die vielen spielenden kleinen Kinder. Also breite ich meine Matte in einer der Sitzgruppen im Park aus, verzurre mein Rad und bin – zack – eingeschlafen. So einfach:)
Radreisetag 4: Von Osmaneli nach Yeniköy
Man kann also auch in den warmen türkischen Nächten frieren, merke ich in den letzten Nachtstunden. Jedenfalls sind Merinounterwäsche und Seidenschlafsack nicht genug. Macht aber nichts, es ist eh Zeit aufzustehen, als die ersten Morgenspazierenden an meinem Parkbankdomizil vorbeikommen und mit Worten oder Blicken fragen, was ich da tue. Niemand hier kann so richtig diese Reiseart nachvollziehen:)
Karges Frühstück auf der Bank, ein kurzer Einkauf, und dann verlasse ich die Stadt. Mit einem so plötzlichen Anstieg hatte ich nicht gerechnet (mich aber auch nicht weiter informiert), jedenfalls brauche ich schon früh am Morgen Motivationsmusik. Wie immer aber ist der Blick von oben fantastisch, und ich rolle begeistert weiter, auch wenn der erste Teil des Tages auf einer autobahnartigen Straße verläuft. In einer Stadt am Wegesrand – der letzten für heute – setze ich mich in eine Lokanta für ein Mittagessen, so wie es ringsum die Einheimischen tun. Linsensuppe, kleine Teigtaschen, Ayran, am Ende Tee – ich mache es wie die Leute hier.
Dann beginnt mein Weg auf abgeschiedenen Straßen. Eigentlich hätte ich es ja ahnen können: Auf Komoot ist Verlass. Dass man sich nämlich nicht darauf verlassen kann. 30 km Asphalt sind in der Realität 30 km Schotter. Es geht 400 Höhenmeter hoch, bald schiebe ich. Aber ich habe ja Zeit (und genug Wasser), und so vergeht Stunde um Stunde.
Kurz bevor ich es geschafft habe, kommt leider eine neue Beschwerlichkeit hinzu. Ich sehe das Insekt noch seitlich in meine Sandale krabbeln, habe keine Chance, und dann tut es auch schon höllisch weh. Wohin und wie oft es mich gestochen hat, weiß ich nicht. Wenige Minuten später ist der Fuß rundum dick, Treten und Laufen ist gleichermaßen schmerzhaft, und das hier oben in der Einsamkeit, ach menno. Nach kurzem Überlegen fahre ich sicherheitshalber ab vom Höhenweg mit den traumhaften Blicken, hinunter in ein Dorf, wo es Kühlung und hoffentlich Hilfe gibt, sollte es schlimmer werden.
Man kann also auch Humpeln beim Radfahren, lerne ich heute. Irgendwann endlich im Dorf angekommen, frage ich direkt in der Teestube des Dorfplatzes, wo ich mein Zelt aufbauen könnte. Die Männer müssen nicht lang überlegen. Derjenige, der als einziger ein bisschen Deutsch und Englisch spricht, entscheidet kurzerhand, ich werde bei seiner Mutter im Haus schlafen (er selbst wohnt hier nicht, wird abends wieder zu seiner Familie im Nachbarort zurückkehren).
Es folgt ein Abend mit Gastfreundschaft pur. Man kocht für mich, ich soll mich so lange auf dem Balkon (der Blick!) ausruhen, ich lege den Fuß hoch und kühle. Nur beim Abendessen wird es wieder schmerzhaft, denn wir sitzen am Boden. Wow, das ist schon sehr nichteuropäisch hier.
Ich lerne einiges über die Schule und das Schulsystem (mein Gastgeber ist auch Lehrer), das türkische Pantoffelsystem im Haus (Straßenschuhe bleiben auf jeden Fall draußen, obwohl meine Fußsohlen wohl deutlich schmutziger sind:-), und im Bad benutzen alle dasselbe dort stehende Pantoffelpaar), die Geschichte dieser Familie, wie Essen abläuft (mehr gemeinsame Schüsseln am Tisch als individuell benutzte Teller), dass ich auf keinen Fall einen Handgriff helfen darf, dass das gemeinsame Teetrinken am Ende dazugehört und dass man dem Gast das größte Schlafzimmer mit dem größten Bett überlässt. Das hatte ich schon befürchtet. Es fühlt sich für unser Verständnis unbehaglich an. Vermutlich aber werde ich auf dieser Reise lernen, dies ohne schlechtes Gewissen auszuhalten. – Möglicherweise ist das überall so außer in unseren sogenannten reichen Ländern.
Radreisetag 5: Von Yeniköy nach Eskişehir
Der heutige Weg heißt übrigens „Von Neudorf nach Altstadt“. Je mehr türkische Wörter ich kenne und lesend verstehe, desto mehr wurmt mich, wie unmöglich es mir ist, auch nur einfachsten Sätzen im Gespräch zu folgen. Es ist noch ein weiter Weg bis zum Verständigen-Können, merke ich beim gemeinsamen Frühstück mit meiner Gastgeberin R. Dennoch bin ich dankbar, dass sie unbeeindruckt von meinem stets fragenden Gesicht immer weiter drauflos erzählt. Vermutlich habe ich einen Teil ihrer Lebensgeschichte zu hören bekommen.
Gut gesättigt und dankbar breche ich auf, es geht heute fast den ganzen Tag nur bergauf. Zum Glück weht Wind, und zum Glück meist von hinten. So kühlt er zwar nicht, aber schiebt. Das kann ich gut gebrauchen, denn am Vormittag ist mein Energielevel im nahezu negativen Bereich. Ob das von meinem Fuß – sehr dick, ziemlich rot und recht schmerzend – oder von einem unbedachten Schluck Wasser aus einer Pumpe – mein Magen-Darm-System meldet sich – kommt, oder ob das einfach an Tag 5 der Reise in meinem unfitten Zustand dran ist, weiß ich nicht. Ich brauche lange bis zum ersten städtischen Ort, in dem ich mich für ein warmes Mittagessen entscheide: Vielleicht geben Linsen, Erbsen und Reis ein wenig Energie.
Ja, tatsächlich, tun sie. Von da ab läuft es besser. Ich brauche nicht ständig Pausen vom Treten, sondern ziehe stoisch durch. Die Straße führt zweimal über eine Höhe von mehr als 1000 Meter, etwas, das man in unseren Breiten schon „Pass“ nennen würde. Hier steht nur ein Schild, dass es jetzt wieder bergab geht. Was am höchsten Punkt einer Straße ja irgendwie logisch ist;-)
Insgesamt ist es eine großartige Straße: wenig Autos, guter Asphalt und permanent Blicke von oben in die bergige Landschaft.
Kurz vor Eskişehir zeigt mir ein kurzer Autobahnabschnitt, wie gut die Entscheidung war, die Anstiegsanstrengungen in Kauf genommen zu haben, ich bin schon nach wenigen Minuten genervt vom Autolärm und holpere die erstbeste seitliche Buckelpiste von der Autobahn hinab, um von dort an über die kleinen Dörfer zu fahren.
Im schon rötlichen Licht erreiche ich das Samstagabendleben von Eskişehir, checke im Hostel ein und stelle mich dabei nicht allzu geschickt an – ich suche lange nach den diversen Zugangscodeeingabetastaturen und Schlüsselkästen. Dies führt verblüffenderweise dazu, dass die Hostin (nennt man das so?) mir anbietet, eine dritte Nacht for free zu bleiben, weil ich es ja so kompliziert mit dem Check-In hatte. – Hej, das war ja mal ein ertragreiches Sich-dumm-anstellen;-)
Duschen, liegen, irgendwann zur Abendessenssuche aufbrechen … und froh sein, dass ich morgen mich und meinen Fuß nur ausruhen werde, so endet der Abend.
Die Stadt übrigens pulsiert. Die Straßen rings um die Partymeile nehmen es von Belebtheit und Buntheit des Publikums her locker mit jeder europäischen Großstadt auf. Was für ein Kontrast zu den ländlichen Gegenden, durch die ich nun tagelang gefahren bin.
Zwei Tage in Eskişehir
Wie gut sie tut, diese Pause. Noch nicht einmal wegen des (immer noch dicken) Fußes oder eines müden Körpers. Mir scheint, dass ich vor allem mental erstmal zur Ruhe kommen und in eine passende Reisegeschwindigkeit hineinfinden muss. Täglich passiert so viel, obwohl der Weg auf den langen Straßen noch nicht mal besonders spektakulär ist. Und doch: Mein Erleben ist dicht, unaufhaltsam prasselt seit fast drei Wochen Szene um Szene auf mich ein.
Deswegen bleibe ich dankbar noch eine dritte Nacht in Eskişehir im Hostel. Den ersten Tag verschlafe ich sowieso fast komplett. Erst abends beginne ich meine Wege durch die Stadt. Am zweiten Tag bin ich immerhin schon mittags wach und unterwegs. Neben einigen Erledigungen (Geldtausch, Post, Decathlon, Mediamarkt … irgendwas ist immer:)) lerne ich viel über das hiesige Leben:
dass es arg gemütlich ist, stundenlang in einem Teegarten zu sitzen …
dass Eskişehir zu den offensten, tolerantesten Städten der Türkei gehört – dies erzählt man mir, und dies spüre ich auch, vor allem auf der „Partymeile“ der Stadt …
dass die Stadt durchsetzt ist von Grünanlagen, Spielplätzen und Gärten und dass ein Großteil des Zentrums natürlich autofrei ist …
dass es offenbar völlig legitim ist, bei einem in der Öffentlichkeit ausgebrochenen Großfamilienstreit kreisförmig ringsum zu stehen, interessiert-empathisch zuzuschauen und die Abläufe zu kommentieren (und ebenso kreisförmig-interessiert den Polizeiwagen zu umringen, als dieser kommt und die beiden Parteien trennt) …
dass sich venezianische Gondeln doch in Venedig besser machen als vor Eskişehirs Neubaublocks …
dass es auch in der Hochburg touristisch orientierten Kunsthandwerks keinerlei Ansichtskarten gibt …
dass man in der Post äußerst bemüht ist, aber auch das Geschäft mit Briefmarken wohl zum Aussterbenden gehört …
dass Kinder bis Mitternacht quietschemunter auf den Straßen spielen, ohne dass die Interaktionen zwischen Eltern und (Klein)Kindern auch nur die Spur von Gereiztheit enthalten …
dass man in Lokantas doch am besten isst …
dass es hier keine nichttürkischen Touristen gibt …
dass außer gelassenem Teetrinken auch gelassenes Angeln (neben Hauptstraßen!) zu den hiesigen Lieblingstätigkeiten gehört …
dass auch die Verkäufer selbst nicht verstehen, warum sie nach 22 Uhr keinen Alkohol mehr verkaufen dürfen, während man selbigen zum quasi gleichen Preis nebenan in der Kneipe bis 3 Uhr nachts trinken darf …
dass Baklava zu über 100% aus Zucker besteht …
dass in kleinen und großen Menschengruppen, wenn sie beieinander sitzen, sehr viel miteinander geredet wird …
dass mir auch hier alle immer nur freundlich und noch freundlicher begegnen …
Dennoch scheint mir all das immer noch an der Oberfläche zu kratzen. Ich wundere mich über Reisende, die von „tief in die Kultur eintauchen“ berichten. Ich finde ja, man paddelt allerhöchstens ein wenig am Rand umher, wenn man nicht Monate hier verbringt.