Im phrygischen Tal – Weite und Kappadokien-Vorahnung
13. bis 17. August 24 – Von Eskişehir nach Afyonkarahisar
Radreisetag 6: Von Eskişehir nach Sarıcailyas
Verlassen eines Zu-Hause-Ortes – das Hostel mit seiner kleinen Terrasse – fällt mir wie immer schwer. Bei der Ausfahrt aus der Stadt schaffe ich es, alle erdenklichen Verkehrsregeln zu missachten, sogar die Radwege benutze ich falsch herum 🙈. Man sieht es mir nach, selbst die Polizei.
Der heutige Weg ist eine einzige Steigung. Dass ich nach den ersten paarhundert Höhenmetern länger am Straßenrand verweilen muss, wegen einer unerwarteten SIM-Karten-Situation, das ist willkommene Ruhepause. Weniger willkommen ist mir, dass mich kurz darauf ein rhythmisch klackerndes Geräusch am Rad aufschreckt. Nach Ausschluss aller anderen Verursacher orte ich das Hinterrad und steige ab, um Speichen und Felge und Bremse und sonstige Kandidaten zu überprüfen. – Nichts, alles perfekt. Erst beim Losfahren realisiere ich: Beide Reifen, beide Sohlen sind im zähflüssigen Asphalt eingesunken! Geklackert haben kleine Steinchen im Profil. Und von jetzt ab ist wirklich alles mit Schottersteinchen beklebt, die Reifen kleben am Asphalt und eiern wegen der ungleichmäßigen Puderung, meine Sandalen kleben an den Pedalen, dazu ist es schlittrig auf dem Asphalt – ej, sowas habe ich ja noch nie erlebt. Dabei bin ich schon oft in Hitze gefahren. Ist dieser Asphalt hier zu neu? Minderwertig? Ungeeignet für die Hitze? Wird das jetzt öfter so sein? – Ich habe das noch nie auch nur ansatzweise erlebt, auch nicht von anderen Radreisenden gehört. Mist, ziemlich blöd.
Als Lösung versuche ich erstmal den Großteil der Steinchen per Zentrifugalkraft von den Reifen zu schleudern – gelingt – und möglichst nur noch auf dem schottrigen Randstreifen zu fahren. Wo das zu gefährlich ist, versuche ich die Aquaplaning-Geschwindigkeit des Asphalts zu erreichen. Und vor allem: Nie mehr anhalten. Irgendwie komme ich durch. Und am Abend werde ich meinen Reifen dann hufpflegeartig den Asphalt aus dem Profil kratzen.
Ansonsten aber fühle ich mich sehr wohl in der immer einsameren, immer trockeneren Landschaft. Nach 50 km pausiere ich kurz in einem Städtchen – und will direkt wieder weg in die Kargheit. Über Stunden ändert sich nicht viel, und Belohnung des permanenten Bergauffahrens sind Weitblicke über Weitblicke. Je schräger das Licht, desto großartiger.
Zum Abend bin ich eigentlich nur auf Wassersuche, treffe im erstbesten Dorf zwei Männer und frage danach, und auch ob ich vielleicht mein Zelt hier in der Gegend irgendwo aufschlagen könnte. Nein, das müsste ich nicht, ich solle mitkommen. Umgehend sitze ich in einer Art Dorfküche, sie trinken mit mir Tee, bald kommen andere Menschen vorbei, eine Frau bringt ein Tablett mit Abendessen, an der Moschee gibt es Toilette und Waschraum … so geht das hier. Mein Zelt baue ich aber trotzdem auf – alle helfen dabei:) – statt im Haus zu schlafen. Der Rest des Abends sind Zusammensitzen und Gespräche (leider nur mit Übersetzungsapp).
Als ich letztlich still im Zelt liege, den Mond über mir, bin ich einmal mehr tief dankbar, das hier alles erleben zu dürfen.
Und ich staune über mich selbst: Bei der Dorfeinfahrt war mir meine Brille runtergefallen, erstmals in vierzig Jahren ist ein Glas kaputtgegangen, ausgerechnet hier und jetzt. – Und ich? Reagiere keine Sekunde verärgert, beunruhigt oder hadernd. Werde die Auslands-KV anschreiben, übermorgen in der nächsten größeren Stadt Optiker aufsuchen, notfalls das Glas von zu Hause schicken lassen – es wird sich eine Lösung finden. Es ist nur ein Glas, nur eine Brille, kein Grund für Aufregung oder Nervosität: Alles wird gut. Diese Reise scheint mir schon jetzt eine Tonne Vertrauen geschenkt zu haben.
Radreisetag 7: Von Sarıcailyas nach Yazılı
Im morgendlichen Dorf scheint lange niemand außer mir wach zu sein, bis plötzlich ein Mann um die Ecke kommt und mir Börek schenkt. Jemand anderes hatte mir über Nacht noch Gemüse hingelegt. Das ist so unglaublich …
In aller Ruhe breche ich irgendwann auf, die Straße ist still wie gestern, nur heißer. Dafür ist die Gegend jetzt bewaldet, nicht mehr karg. Ich trete mich eine kurze Weile bergauf, bis ich oben auf einer Hochebene bin, etwa 1300 Meter hoch. Zwei kleine Dörfer liegen noch am Wegesrand, ohne Menschen (scheinbar), ohne Laden, nur mit einem Wasserhahn im Zentrum. Ich fülle meine Flaschen auf (mit dem Vorsatz es abzukochen, irgendwie traue ich den verlassenen Hähnen nicht.)
Gegen Mittag bin ich in der Region angekommen, die Phrygisches Tal (Frig Vadisi) heißt. Für mich – Unerfahrene – sieht das schon aus wie Klein-Kappadokien. Ich fahre zu einigen Höhlen, in den Felsen gehauene Kapellen, Wohnungen, Gräbern, sehe alte Altäre und Monumente. Im Ort namens Yalızı (was auf deutsch auch als „Midasstadt“ in den Karten zu finden ist) gibt es – erstmals seit Eskişehir – ein Café mit der Möglichkeit zu zelten. Mache ich doch glatt, zumal ich mein Rad schon am Nachmittag dalassen kann, um zu Fuß durch die Felslandschaften zu wandern. Wunderbar. (Hier ist direkt ein Touristenhotspot: Ein italienisches Paar, eine polnische Familie, und noch mindestens fünf türkische Autos mit Besuchenden! Bisher war ich auf all den Wegen seit Eskişehir komplett allein. So wie vermutlich auch morgen den ganzen Tag lang.)
Der Abend ist ruhig. Eine türkische Touristin möchte mir Brot und Wasser schenken, ich habe aber genug – oder mich mit dem Van nach Afyon mitnehmen, jedenfalls irgendetwas für mich tun:) Der Café-Inhaber versichert mir nochmals, dass es hier sicher sei und die Hunde in der Nacht auf mich aufpassen werden. Was sie dann auch tatsächlich tun: indem sie jeden potenziellen Angreifer weiträumig wegbellen. Leider tun sie dies sehr gründlich und mindestens bis Mitternacht und dann ab 4 Uhr schon wieder. Jedenfalls habe ich schon besser geschlafen:)
Radreisetag 8: Von Yazılı nach Afyonkarahisar
Die beiden Hunde des Hauses sind auch am Morgen sehr behütend und legen sich permanent dicht an meine Sachen – klar, die sind ja auch müde nach dieser Nacht -, ein Wunder, dass ich beim Packen keinen von ihnen trete. Als ich gerade am Abfahren bin, kommt der Café-Inhaber, und es gibt natürlich einen Tee zum Abschied. Eine wunderbare Tradition dieser so unglaublich herzlichen Menschen.
Mein Weg führt am Vormittag eine kurze Weile noch durch die phrygischen Felsformationen, dann geht es in Richtung der nächsten größeren Stadt, wo ich mich um meine Brille kümmern möchte. Ein langer Anstieg mit Schotter, Staub, Hitze, Schattenlosigkeit, später eine autobahnartige Straße mit wenig Verkehr – ich arbeite mich voran.
Das Ende der Einsamkeit, also sich verdichtende Tankstellen und erste Läden, erreiche ich lang vor Ende meiner Wasservorräte. Der Wind ist stark und schiebt mich, in einem Thermalbad-Ort finde ich einen Wohnanlagenpark für mein Mittagspicknick, immer noch aus dem geschenkten Essen – ein in seiner Komplikationslosigkeit fast schon kitschiger Tag.
Gekrönt wird der Tag von meiner Ankunft in Afyon, wo ich eigentlich erst ab morgen ein Hotel habe, booking zeigte kein (günstiges) Zimmer mehr an. Mit Hilfe eines Mannes von der Straße aber klärt sich schnell, dass ich schon heute hier einziehen darf. Der Hotelchef ist Ex-Berliner, seine drei Töchter sind in Deutschland aufgewachsen, er freut sich so unglaublich über meinen Besuch, das ist mir fast schon unangenehm. Ebenso wie die Szene, als er seine Mitarbeiter anweist, mein Rad hinein- und das Gepäck in mein Zimmer hochzutragen – ich darf nicht mal mit anfassen. (Und die Männer schuften sich ganz schön ab mit dem Rad auf der Treppe:)).
Nach der ersehnten Dusche möchte ich einen Optiker suchen, ein Mann von der Rezeption nimmt mich dafür sozusagen an die Hand und führt mich zu einem kleinen Laden. Auch hier wieder ist alles unglaublich. Mit Hilfe des Deepl-Übersetzers verständigen wir uns schnell, dass diese spezielle Gleitsichtglasbestellung mindestens eine Woche dauern würde, er das Ganze aber gut nach Konya schicken kann, wo er viele Freunde hat, ich also in der Zeit ruhig weiterreisen könnte. Das Ganze scheitert leider nur an meinem heimischen Brillenanbieter namens F., dessen Kundendienst seit zwei Tagen nicht auf meine Mail reagiert und bei dem meine Tochter einen halben Nachmittag lang vergebens in der Telefonwarteschleife hängt. Ich habe also keine Bestellnummer o.ä. von dem Glas. (Hinweis für mich: nächstes Mal alles alles alles mitnehmen!).
Währenddessen bekomme ich türkischen Kaffee und Wasser, der Laden hätte schon längst geschlossen, und als wir so plaudern über Augen und Brillen und unsere Familien und Länder, entwickeln wir plötzlich beide die gleiche Idee: Ich kaufe mir jetzt einfach eine Nichtgleitsichtbrille, die ist bis morgen fertig und fürs Radreisen allemal nützlich, wenn nicht sogar ausreichend – dann kann F. sich ruhig weiter Zeit lassen mit meinem Anliegen;-)
Also: Glassorte und Fassung ausgewählt – der Optiker holt von allein den Koffer mit den günstigen heraus, weil es ja nur eine kurzzeitige Ersatzlösung sein soll, und berät mich total nett -, er misst nochmal schnell meine Werte (die mit den mitgebrachten übereinstimmen), und ich bin einmal mehr fasziniert, wie gut und herzlich mir hier eben geholfen worden ist.
Den Rest des Abends spaziere ich in der alten Stadt umher. Echt wirkt sie, keine Aufbereitung für Besuchende, das Leben wird sichtbar, so wie es hier wirklich zu sein scheint. Ich suche mir Wege, Blicke, Essen, Trinken, Parks, bis ich müde bin.
Und morgen hole ich meine neue Brille ab.👍
Zwei Tage in Afyonkarahisar
Die Stadt ist echt, schrieb ich am ersten Abend. Und: Das Leben wird sichtbar, wie es hier wirklich zu sein scheint. – Ja, das stimmt. Sage ich auch nach zwei Tagen noch. Was ich sehe, ist nicht nur „schön“. Ein Ort der Kontraste.
Da ist die goldfarbenbeschriftete Einkaufsstraße, in der Süßigkeiten (Lokum!), Sucuk und Goldschmuck dominieren und offenbar Magnet für viele türkische Wochenendtourist*innen sind. Und da sind die alten Gassen mit zerfallenden Häusern, in denen auf der Straße gesessen, gearbeitet, geputzt, repariert, gekocht und gehandelt wird. Schonungslose Sichtbarkeit von Armut, deren Dimension ich hier nicht schönreden will und die ich nicht auf Bildern festgehalten habe.
Noch ein Erlebnis, das etwas mit mir macht: Ich wollte mir die beiden als „Sehenswürdigkeiten“ benannten alten Moscheen anschauen. Es gibt aber für Frauen nur einen Extraeingang. In der einen Moschee hätte ich inmitten vieler betender Frauen gestanden, ohne einen Blick in den Hauptraum werfen zu können. Ich blieb draußen. In der anderen durfte ich immerhin auf die Frauen-Empore, von wo aus durch ein dichtes Gitter ein Blick auf die spektakulären Holzsäulen des Hauptraumes erlaubt ist. Ganz verstohlen fotografierte ich ein wenig an und über der Absperrung vorbei, möglichst ohne die betenden Frauen um mich herum zu verletzen.
Eine schwierige Situation. Ich bleibe den Rest des Tages nachdenklich und schaue Frauen zu, wie sie auf den Straßen laufen, sitzen, reden und (un)sichtbar sind. Einmal mehr tief dankbar für das Geschenk, das mir zufällig durch Ort und Zeit meiner Geburt zuteil wurde: Dass ich leben darf, wie ich eben lebe, als Frau.
Puh.
Ein Kommentar
Clara himmelhoch
Du schreibst sehr eindrucksvoll und ich kann mir fast alles richtig vorstellen. Das mit den Frauen Emporen in Moscheen habe ich bei meinen venien Besuchen in der Türkei oder anderswo auch erlebt.
Bei dem kaputten Brillenglas habe ich gestaunt, dass du ohne reservebrille auf so eine Reise gehst, aber ihr habt ja eine Lösung gefunden.
Die Fotos in der anderen Reportage sind wirklich beeindruckend.
Eine schöne Weiterfahrt ohne Pleiten Pech und Pannen
Einen lieben Gruß von mir